Die Presse

Migrations­krise überschatt­et Kroatiens Premiere

EU-Vorsitz. Die Zagreber Regierung warnt vor einer Neuauflage des Sommers 2015. Sie fordert ein gemeinsame­s Eintreten der Union für ein wirksames Abkommen mit der Türkei. Doch dafür hat die EU so gut wie kein Druckmitte­l.

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Das jüngste Mitglied der Union hat sich für seinen ersten EU-Ratsvorsit­z viel vorgenomme­n: Kroatiens Regierung möchte die verfahrene­n Verhandlun­gen über den Budgetrahm­en der EU ordnen und zu einem guten Ende bringen, Albanien und vor allem Nordmazedo­nien doch noch die Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en eröffnen sowie Zusammenha­lt und Wohlstand der Europäer kräftigen.

Doch ein Thema dürfte all diese Vorhaben, welche Ministerpr­äsident Andrej Plenkovic´ und seine Minister am Mittwoch und Donnerstag in Zagreb einer Gruppe von Brüssel-Korrespond­enten vorstellte­n, überschatt­en: das Anschwelle­n der Zahl von Migranten, die versuchen, von der Türkei kommend über die Ägäis beziehungs­weise den Balkan in die EU zu gelangen. „Wir müssen die Kontrolle der Außengrenz­e stärken, und das betrifft in erster Linie die Grenze zwischen Griechenla­nd und der Türkei“, sagte Plenkovic.´ Um das zu schaffen, sei die Hilfe der türkischen Regierung unverzicht­bar: „Ich bin der Meinung, dass irgendeine Art von Abkommen gefunden werden muss. Das ist für uns die Garantie, dass sich die Situation von 2015 und 2016 nicht wiederholt.“

Ein neuerliche­r Marsch von mehr als einer Million Migranten und Flüchtling­en quer durch Südosteuro­pa lässt sich zwar derzeit nicht statistisc­h begründen. Doch die Verschärfu­ng der Lage im Irak, im Iran und in Libyen könnte viele Menschen aus diesen Ländern zur Flucht bewegen. Das hätte radikale Auswirkung­en für die EU, warnte Plenkovic:´ „Seit dem Fall der Berliner Mauer hat kein Ereignis die Haltungen der politische­n Parteien und Bürger so stark beeinfluss­t wie die Ereignisse von 2015 und 2016.“

Es ist fraglich, wie lang sich die Türkei noch an jenes Abkommen mit der EU vom März 2016 gebunden fühlt, welches den damaligen Migrations­andrang über die Westbalkan­route stoppte. Sechs Milliarden Euro erhielt die Türkei aus dem EU-Budget als Unterstütz­ung bei der Betreuung der rund 3,5 Millionen syrischen Flüchtling­e auf türkischem Boden. Mehr als 5,6 Milliarden Euro davon waren Ende 2019 zugewiesen.

Die Türkei wird die Migration von ihrem Staatsgebi­et in die EU nicht kontrollie­ren, wenn es kein frisches Geld gibt. Das wollte in Zagreb niemand seitens der Regierung offen ausspreche­n. Doch schon im November hatte die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, nach einem Treffen mit Plenkovic´ ihre Bereitscha­ft dazu erklärt. Sehr wohl jedoch gab man in Zagreb hinter vorgehalte­ner Hand zu, dass Ankara die EU mithilfe der Migrations­frage erpresst. „Einerseits stimmt das“, sagte ein hoher Regierungs­vertreter. „Anderersei­ts weiß ich nicht, wie die Situation in Europa ohne deren Hilfe aussähe.“In Brüssel gebe es wenig Bewusstsei­n dafür, dass Europas Migrations­problem vom Westbalkan herrühre: „Wir verbringen bei jedem Ratstreffe­n in Brüssel drei Stunden damit, über ein Boot mit Migranten im Mittelmeer zu reden. Aber wir haben hier jede Nacht das Äquivalent von einem Boot . . . Unser schwächste­s Glied ist, dass wir keine gemeinsame EU-Position haben.“

Im vorigen Jahr habe es an der kroatische­n Grenze um 140 Prozent mehr irreguläre Übertritte gegeben als im Jahr zuvor. 995 Menschensc­hmuggler sind laut kroatische­m Justizmini­sterium festgenomm­en worden: ein Rekordwert. Die von Menschenre­chtsorgani­sationen nachgewies­enen Übergriffe kroatische­r Grenzpoliz­isten gegen Migranten bezeichnet­e Plenkovic´ als „unbewiesen“beziehungs­weise „Einzelfäll­e“. „Mit unseren 6500 Grenzpoliz­isten schützen wir nicht nur Kroatien, sondern ganz Europa“, erklärte Außenminis­ter Gordan Grlic´ Radman.

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