Bangen ist die neue Normalität
Analyse. Österreich droht nach drei Jahrzehnten erstmals den Ski-Nationencup zu verlieren. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Marcel Hirschers Paradedisziplinen die größten ÖSV-Baustellen sind.
Ein Skirennen ohne Marcel Hirscher, das ist wie ein nüchterner Apr`es-Ski. Dieser Befund lässt sich nach einem guten Drittel der Saison stellen. Starke Leistungen und spektakuläre Schwünge sind im Weltcup nach wie vor zu beobachten, aber am Ende fehlt eben dieser eine Superstar, der noch kompromissloser zur Sache geht und die Grenzen des Möglichen noch einmal verschiebt.
Welch riesiges Loch Hirscher hinterlässt, wird gerade so richtig deutlich. Im völlig offenen Rennen um den Gesamtweltcup, bei den einbrechenden TV-Quoten – und vor allem im ÖSV-Lager.
Dort hat sich bei den Herren neben dem Riesentorlauf inzwischen auch der Slalom zur Problemdisziplin entwickelt. Vier Slaloms ohne Podestplatz bedeuten den schlechtesten Saisonstart seit 1991/92. Am Mittwochabend schafften es in Madonna di Campiglio gerade einmal zwei ÖSV-Athleten in das Finale der Top 30. Und am Wochenende wartet mit Adelboden einer der schwersten Hänge überhaupt, vor allem im Riesentorlauf droht Ungemach: der angeschlagene Manuel Feller verzichtet, Roland Leitinger reist mit Rückenschmerzen an.
Auf die Technik-Misere angesprochen, erklären die ÖSV-Verantwortlichen, dass die Trainingsleistungen beachtlich seien, nur der Knopf aufgehen müsse. Schließlich sei der historische Dreifachsieg beim WM-Slalom in A˚re im Februar noch nicht so lang her. Die zur Schau gestellte Geduld der Trainer mag für die Athleten womöglich das Beste sein, doch geht der Knopf nicht schleunigst auf, ist es zu spät. Im Jänner fallen im Weltcup die Vorentscheidungen im Kugelkampf, warten die Klassiker und die großen Heimrennen, ab sofort läuft die heißeste Phase.
Bisher haben die ÖSV-Damen mit Masse statt Klasse (ein Sieg in 13 Rennen) Österreichs Führung im Nationencup verteidigt, doch jetzt ist die Schweiz vorbeigezogen. Die ÖSV-Herren liegen ohnehin nur auf Rang vier. Seit 1989/90, also 30 Winter in Folge, hat die Skination Österreich den Nationencup gewonnen, nun droht die Wachablöse. Das ist ein heftiger Schlag für die ÖSV-Spitze um Präsident Peter Schröcksnadel.
Das Bangen um den Nationencup wird Normalität werden. Die künftigen Stars fahren bei Swiss Ski (Marco Odermatt, Lo¨ıc Meillard), im Gesamtweltcup werden Alexis Pinturault und Henrik Kristoffersen den Ton angeben. Wie sehr Hirschers Konstanz unerreicht ist, zeigen die Zahlen. Im Vorwinter hatte der Salzburger vor Adelboden 756 Punkte und sieben Siege (einer ging später an Stefan Luitz) eingefahren, der aktuell führende Pinturault zählt 475 Punkte und drei Siege. Und plötzlich mischen Speedfahrer wie Aleksander Kilde und Dominik Paris wieder im Rennen um die große Kugel mit.