Sag zum Abschied leise gar nichts
Ghosting. Wird der radikale Abbruch von Kontakten und Beziehungen zur sozialen Seuche? Und wer ist schuld, Internet oder Kapitalismus?
Ein Ritual zum Jahresstart: die Kontaktlisten am Smartphone von Karteileichen säubern. Namen von Menschen, mit denen wir früher freundschaftlich oder gar intim verkehrten und die wir aus den Augen verloren haben. Nicht selten ist der Abbruch in unseren digitalen Archiven dokumentiert: durch eine letzte Botschaft, auf die keine Antwort mehr kam. Wortloses Abtauchen, beredtes Schweigen – in der Hoffnung, die andere Person möge realisieren, dass keine weitere Kommunikation erwünscht ist.
Ein Gespenst geht um: das „Ghosting“. Vor zwei Jahren hat es als hipper Neologismus in der Jugendsprache Einzug gehalten. Mittlerweile sehen darin viele eine soziale Seuche, die von Bekanntschaften auf Beziehungen übergreift, und als Symptom tiefer Verwerfungen. Der Mensch als Leistungspaket, das man kommentarlos storniert, wenn es nicht mehr den Erwartungen entspricht: Ganze Bücher werden darüber geschrieben, wie jenes jüngst erschienene von Tina Soliman: „Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter“.
Nur eine neue Strophe im alten Klagelied von der Oberflächlichkeit unserer Zeit (und aller früheren davor)? Es fällt leicht, voreilig abzuwinken: Wer sich so aus dem Staub macht, ist doch einfach stillos, egozentrisch, feig und unreif. Und an die Betroffenen gewandt, die mit Unbekannten im Netz anbandelten: Was haben ihr euch erwartet? Ihr stellt euch ja selbst als geschönte Produkte dar. Man spielt mit, lässt sich treiben, reicht seine Hand weiter wie beim Reigentanz. Also bitte nicht wehleidig sein, wenn ihr dann allein, von allen frivolen Geistern verlassen auf der Tanzfläche steht.
Es ließe sich weiter sticheln. Der Mann, der „mal schnell Zigaretten holen“gehen will und stattdessen ohne Adieu nach Australien auswandert, spukte schon durch das analoge Zeitalter. Paul Simon kannte gar
„50 Ways to Leave Your Lover“. Heute ist das Verschwinden durch die medialen Spuren eher schwieriger geworden. Man muss das „Ghosting“durch „Cloaking“verschärfen, Profile und Nummern blockieren. Nur namentlich neu sind andere kleine Gemeinheiten auf der Partnersuche: Beim „Benching“schiebt man auf die lange Bank, beim „Breadcrumbing“wirft man den Reservisten sporadisch Krümel hin, um sie bei Laune zu halten, und beim „Cushioning“fällt weich, wer sich alle Optionen offen hält. Dafür brauchten wir weder Internet noch Modewörter. Schlagt nach in der Weltliteratur!
Aber Solimans Thesen docken auch bei einem tieferen Unbehagen an der digitalen Kultur an. Etwa diese: „Wie eine Beziehung beginnt, so wird sie später oft beendet.“Wer sich über Dating-Plattformen findet – und das tun, vor allem unter den Jungen, immer mehr –, kann die eingeübte Untugend der Unverbindlichkeit nicht so leicht ablegen. Die Geister, die wir aufriefen, werden wir nicht los. Das klingt plausibel, zumal bei der
Vor allem aber fügt sich das Phänomen in die bekannten Diagnosen der Soziologin Eva Illouz: Wo die Liebe zur Ware wird, enden die wahren Gefühle. Der Kapitalismus als Sündenbock? Gerade die Romane von Jane Austen, auf die sich Illouz gern bezieht, zeigen: Den Heiratsmarkt gab es immer schon. Er war früher sogar herzloser, weil stärker auf ökonomischen Vorteil bedacht. Und von Knappheit geprägt: enges Umfeld, Regeln und Verbote schränkten die Auswahl ein.
Erst das Internet hat daraus das Überangebot eines riesigen Supermarkts gemacht – als Massenmedium, das „Massen sichtbar macht“, wie der Essayist Sven Hillenkamp schreibt. Am Pranger stehen Plattformen wie Tinder, bei denen jeder, der nicht gefällt, mit einem leicht menschenverachtenden Wisch nach links ins digitale Nichts entsorgt wird und das „Match“oft nur flüchtige Sexualkontakte vermittelt. Aber auch seriösere Singlebörsen wie Parship, die vorgeben, durch Suchalgorithmen den optimalen Partner zu finden. So weicht die verantwortungsvolle Wahl der passgenauen Auswahl, die Überwältigung durchs Gefühl dem kühlen Kalkül.
Beide Wege, so der kulturpessimistische Befund, führen nicht zum Glück, sondern zu Geistern. Mag sein. Doch ist ein Ausweg in Sicht, wenn uns nicht „das System“, sondern Technologie die Misere eingebrockt hat. Sie wäre dann ein nützliches Werkzeug, dessen Gebrauch wir noch erlernen müssen. Erst dann können wir damit unser Glück schmieden – statt es von Geisterhand zu zerstören.