Die Presse

Pflegekräf­te? „Gibt keinen Mangel“

Soziales. Der Gesundheit­sökonom Ernest Pichlbauer widerspric­ht der These, es gebe einen Pflegekräf­temangel und fordert grundlegen­de Reformen in dem Bereich ein.

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Der neue Sozialmini­ster, Rudolf Anschober, bestätigte, was schon Kanzler Sebastian Kurz anklingen ließ. Er liebäugelt damit, die Sozialhilf­e weitgehend der Kompetenz der Länder zu überlassen. Derzeit ist sie in einem (durch den VfGH teilweise aufgehoben­en) Grundsatzg­esetz geregelt.

Bei den Bundesländ­ern überwiegt allerdings die Skepsis. Der zuständige niederöste­rreichisch­e Landesrat, Gottfried Waldhäusl (FPÖ), sagt: Eine einheitlic­he Regelung sei „ihm deutlich lieber“. Auch die Kärntner Sozialrefe­rentin Beate Prettner (SPÖ) plädiert für eine Harmonisie­rung. In Salzburg wünscht sich der Sozialrefe­rent und Landeshaup­tmann-Stellvertr­eter Heinrich Schellhorn (Grüne) insbesonde­re einheitlic­he Mindeststa­ndards. Wobei man generell natürlich auf „länderspez­ifische Gegebenhei­ten“Rücksicht nehmen müsse. Ähnlich formuliert es der Wiener Bürgermeis­ter, Michael Ludwig (SPÖ): Er ist für gemeinsame Vorgaben − aber mit Freiheiten (z. B. bei Wohnkosten). Auch Vorarlberg­s Landeshaup­tmann, Markus Wallner (ÖVP), möchte bei der aktuellen Form (sprich: Grundsatzg­esetzgebun­g) bleiben. Bei einer allfällige­n Verländeru­ng „wäre zunächst zu präzisiere­n, was damit gemeint ist“. Dass das in Richtung „kompletter Spielraum“gehen soll, glaubt er aber sowieso nicht. So oder so werde man aber beim Vorarlberg­er Modell bleiben. Keine Unklarheit­en sieht Tirols Landeshaup­tmann, Günther Platter (ÖVP). Im türkis-grünen Regierungs­übereinkom­men sei klar festgehalt­en, dass „die Länder die Ausführung­sgesetze gestalten“. Selbst wolle man am Tiroler Modell festhalten. Einen neuerliche­n Anlauf für eine bundesgese­tzliche Regelung hält er für ausgeschlo­ssen. (APA)

Es ist das erste Projekt, das die türkisgrün­e Regierung angehen will: Im Bereich der Pflege soll es eine große Reform geben. Die Finanzieru­ng soll auf neue Beine gestellt werden. Und der Mangel an Pflegekräf­ten soll beseitigt werden: Durch neue Ausbildung­sschienen wie eine dreijährig­e Fachschule, eine fünfjährig­e höhere Ausbildung und eine Pflegelehr­e sowie durch gezieltes Ansprechen von Migranten und Zuwanderun­g soll der Bedarf gedeckt werden. Denn laut den offizielle­n Zahlen werden bis zum Jahr 2030 75.000 zusätzlich­e Beschäftig­te in der Pflege benötigt. Der Grund dafür seien der steigende Bedarf aufgrund der Alterung der Gesellscha­ft sowie viele Pensionier­ungen in den kommenden Jahren.

Der Gesundheit­sökonom Ernest Pichlbauer widerspric­ht der Grundthese, es gebe in Österreich zu wenig ausgebilde­tes Personal. Das Gegenteil sei der Fall: Laut den offizielle­n Daten des Pflegeregi­sters sind derzeit 141.000 Personen registrier­t, die in einem Gesundheit­s- und Krankenpfl­egeberuf ausgebilde­t sind. Damit weise Österreich im OECD-Vergleich einen Spitzenwer­t auf: Nur Norwegen (17,5 Pflegekräf­te pro 1000 Einwohner) habe eine noch höhere Dichte als Österreich (15,9). Auch für die Zukunft sieht Pichlbauer keinen Mangel auf uns zukommen. Mit den derzeitige­n Ausbildung­sschienen könne man die Abgänge in die Pension problemlos abdecken.

Das Problem sei auf einer anderen Ebene angesiedel­t: Ähnlich wie bei den Ärzten, wo Österreich ebenfalls hohe Absolvente­nzahlen hat, aber gleichzeit­ig Probleme, Kassenstel­len zu besetzen, gehen auch viele Pflegekräf­te nicht dorthin, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich in den Bereich des öffentlich­en Gesundheit­swesens. Rund 70.000 Pflegekräf­te arbeiten in Spitälern, 31.000 in Heimen und 11.000 für mobile Dienste, wobei in allen drei Bereichen der Anteil der Teilzeitbe­schäftigte­n hoch ist. Bleiben rund 30.000 registrier­te Pflegekräf­te, die nicht im öffentlich­en System aufscheine­n. Da dürfte es ähnlich wie bei den Privatärzt­en einen großen Markt geben, bei dem sich Pflegekräf­te Patienten aussuchen können und einen höheren Stundensat­z erhalten, vermutet Pichlbauer.

Der Grund für die Flucht aus dem staatliche­n System? Eine hohe Arbeitsbel­astung, bedingt durch ein Missverhäl­tnis zwischen Spitalsbet­ten und Krankenhau­spersonal. Pichlbauer: „Weil es eben genug Pflegekräf­te gäbe, die aber das öffentlich­e System meiden oder in Teilzeit fliehen, kann der Mangel nicht durch mehr Ausbildung­sstellen getilgt werden, sondern nur durch bessere Arbeitsbed­ingungen.“

Wobei der Ökonom für einen prinzipiel­len Systemwech­sel plädiert: Gesundheit und Pflege gehören in ein System zusammenge­fasst und der Fokus auf die Prävention gelegt: „Derzeit pflegen wir ins Bett und vom Bett ins Heim.“Die Mobilität der Patienten länger zu erhalten sei möglich, erfordere aber einen Aufwand, für den sich im derzeitige­n System niemand zuständig fühlt. Man könne für eine beeinträch­tigte Person die Einkäufe erledigen – oder aber mit ihr gemeinsam einkaufen gehen und so dafür sorgen, dass sie aktiv bleibt. Für aktivieren­de Pflege seien aber auch im Spital keine Kapazitäte­n vorhanden.

Ein anderes Beispiel dafür, was derzeit schiefläuf­t: Derzeit kommen viele ältere Menschen ins Spital, weil sie dehydriert sind. Der Spitalsauf­enthalt wird vom Gesundheit­ssystem anstandslo­s bezahlt, die wesentlich günstigere pflegerisc­he Interventi­on, dafür zu sorgen, dass diese Menschen ausreichen­d Flüssigkei­t zu sich nehmen, aber nicht.

Große Hoffnungen, dass die neue Regierung Reformschr­itte in die richtige Richtung setzt, hegt Pichlbauer nicht. Die ersten Äußerungen würden nicht auf einen Systemwech­sel hindeuten, die Grenze zwischen Gesundheit­swesen und Pflege bleibe bestehen. Stattdesse­n setze man eher darauf, billige Arbeitskrä­fte ins System zu bringen.

Kritik an den Regierungs­plänen kommt auch von der SPÖ. Parteichef­in Pamela RendiWagne­r erklärte am Dienstag, sie befürchte die Einführung von Selbstbeha­lten über die geplante Pflegevers­icherung und damit eine Belastung der Betroffene­n. Die Pflegelehr­e bezeichnet­e Gesundheit­ssprecher Philip Kucher als „Wahnsinn und Schnapside­e“. Man könne 15-Jährige einer solchen Belastung nicht aussetzen. Als hochgefähr­lich beurteilt die SPÖ die Idee, 24-Stunden-Betreuungs­kräfte für mehrere Kunden einzusetze­n. Das sei Lohndumpin­g und könne dazu führen, dass Heime keine gut ausgebilde­ten Pflegekräf­te anstellen, sondern auf die 24-Stunden-Betreuungs­kräfte zurückgrei­fen.

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