Wir sind viel langweiliger, als wir denken
Psychologie. Alle reden über das aufregend Neue, aber zu Hause sehen wir uns heimlich Uraltserien an. Auch die strenge Wissenschaft entdeckt nun, wie unerwartet glücklich die Wiederholung macht. Was bedeutet das für unseren Lebensstil?
Für die Fans von „Friends“in Amerika begann das Jahr mit einer schweren Krise: Der Streamingdienst Netflix hat ihre geliebte Serie dort aus dem Programm genommen, weil die Lizenz abgelaufen ist. Fünf lange Monate müssen sie nun warten, bis die Neunzigerjahre-Sitcom in den USA wieder zu sehen ist, auf HBO Max. 400 Millionen Dollar ließ sich dieser Sender aus der Warner-Gruppe die Ausstrahlungsrechte kosten. Kein isoliertes Kuriosum: Von den 50 erfolgreichsten Sendungen auf Netflix sind über die Hälfte keine frischen Eigenproduktionen, sondern Uraltserien. Sicher gibt es auch Jugendliche, die diese Relikte jetzt erst für sich entdecken. Aber im Wesentlichen zelebrieren hier allzeit Getreue ein Ritual des Immer-wieder-Sehens. Das ist nichts, was man den Kollegen in der Kantine oder den Kumpels an der Bar stolz berichtet.
Dort regiert das Neue: Kennst du das schon? Das darfst du nicht versäumen! Insgeheim aber bleiben viele beim Bekannten, Bewährten – und verdrängen oft selbst ganz verschämt, welches Vergnügen es ihnen bereitet. Auch vor dem eigenen Ich steht niemand gern als Langweiler da. Und sogar die strenge Wissenschaft hat das Glück der Wiederholung soeben erst wiederentdeckt.
Denn zunächst sind wir Menschen für sie Produkte der Evolution: Was wir nicht kennen, könnte eine Gefahr sein, deshalb bewährt es sich, ihm unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken. Das Bekannte hingegen hat sich meist als harmlos erwiesen, und weil wir nur begrenzt Informationen verarbeiten können, beachten wir es nicht mehr.
Der Geist der Zeit verstärkt diese Prägung. Die Angst vor neuen Gefahren wandelt sich zur Furcht, etwas Neues zu versäumen. Heller denn je stahlt der Glanz der Novität: Influencer aller Art bombardieren uns mit Berichten über ihre fabelhaft abwechslungsreiche Existenz. Immer längere Listen informieren uns darüber, welche Erfahrungen wir machen müssen, um uns die Wandernadel für den erfüllten Lebensweg zu verdienen. Der Trend geht zu immer kürzeren Reisen und immer neuen Destinationen. Das Erste, womit sich junge Menschen bei ihrer Selbstdarstellung in sozialen Medien brüsten, ist oft, wie „well travelled“sie sind, wie viele Länder sie bereits besucht haben.
Die Technologie tut ihr Übriges: Es ist nicht lang her, da implizierte der Kauf einer Schallplatte oder CD, dass man die Musik darauf vielmals zu hören gedachte – was sich durch die instantane Verfügbarkeit aller Inhalte im Internet erübrigt hat.
Aber macht die Jagd nach dem Neuen auch glücklich? Hatten die alten Römer mit ihrem „Variatio delectat“recht?
Bisher hielten Psychologen auch dies für erwiesen. Ihr Paradigma dazu war die „hedonistische Tretmühle“. Wenn Menschen etwa im Lotto gewonnen haben, ebbt die Euphorie bald wieder ab. In ein paar Wochen oder Monaten sind sie so unzufrieden wie zuvor. Also, lautete die Folgerung, brauche es immer neue Impulse, um das Glücksgefühl auszulösen. Doch nachgewiesen ist dieses Phänomen nur für Sprünge auf ein neues konstantes Niveau. Wiederholungen aber zeichnet aus, dass Pausen sie trennen. Es vergeht einige Zeit, bis wir einen Film wieder sehen oder ein Spiel wieder spielen.
Dennoch erwarten wir, dass wir uns dabei langweilen – das hat eine große US-Studie im Vorjahr belegt. Die befürchtete Monotonie wird aber überschätzt, zeigen die Experimente von Ed O’Brien, über die er in „Enjoy It Again“berichtet. Umgekehrt unterschätzen wir sträflich, welche Freude uns das wiederholte Erlebnis bereiten kann.
Woher rührt sie? Wer das erste Mal in ein Museum geht, findet sich oft nicht zurecht, sucht nach Exponaten, ist verwirrt und gewinnt keinen Überblick. Bei einem Folgebesuch aber schlendert man informiert und entspannt herum und freut sich auf das, was einen im nächsten Raum erwartet. Wissen, woran man ist, und versiert damit umgehen: Es ist diese Art von Vergnügen, die Fans von alten Serien mit garantiertem Happy End für sich entdeckt haben – eine kuschelige Komfortzone, die von Hektik und Wettbewerbsdruck da draußen abschirmt.
Wer hingegen Neues erkundet, läuft Gefahr, enttäuscht zu werden. Nutzenökonomisch formuliert: Die Risikokosten reduzieren den Erwartungswert des Neuen im Glückskalkül. Einen zweiten oft unterschätzten Effekt lernt kennen, wer ein Buch wieder liest: Man entdeckt andere Aspekte, auch deshalb, weil man selbst ein anderer geworden ist. Umso mehr, je komplexer der Inhalt ist, am stärksten in den unauslotbaren Werken der Weltliteratur. Der Paradigmenwechsel der Psychologen läuft auf die Weisheit hinaus: Nur wer in die Tiefe geht, schöpft das Glückspotenzial, das in den Dingen (und Menschen) steckt, wirklich aus – und lernt dabei auch mehr. Wer allein die Breite sucht, betreibt Verschwendung, materiell wie ideell.
Die Tugend des Ausschöpfens dürften frühere Generationen viel stärker eingeübt haben, und sei es nur, weil es ihnen an Konsummöglichkeiten mangelte. Dieselbe Sommerfrische im Urlaub, dasselbe Ausflugslokal am Sonntag: Das reichte aus, um die Vorfreude stets aufs Neue zu wecken.
Auch in unserer Zeit haben sich kleine Enklaven für dieses Ethos des Repetitiven erhalten. Neben den erwähnten Serien lässt sich auch an klassische Konzerte und ihre Rezeption denken, das Lauern auf kleinste, vielleicht sogar nur imaginäre Unterschiede in der Umsetzung des hundertfach Gehörten durch Dirigent und Orchester. Oder an die wenigen verbliebenen Festtagsrituale, von der Christmette bis zu „Dinner for One“am Silvesterabend. Und sicher gibt es modische Gegenbewegungen: Yoga, Meditation, Achtsamkeit. Aber schon wie rasch diese medial getrommelten Trends sich ablösen, deutet den wahren Rhythmus an, den das Neue als Metronom vorgibt. So dass uns nun die Wissenschaft mahnend zurufen muss: Mach es nochmals, Mensch!