Wurde Benedikt XVI. betrogen?
Kirchenstreit. Was Ratzinger in dem der „Presse“vorliegenden Zölibatsbuch wirklich geschrieben hat: Radikales an die Adresse von Franziskus – und manches vielleicht gar nicht.
Bis zuletzt war geheim gehalten worden, dass es dieses Buch überhaupt gibt. Seit Sonntag sorgten ein paar von der Zeitung „Le Figaro“veröffentlichte Zitate für Aufsehen. Am Mittwoch erscheint nun in Frankreich jenes Buch mit Benedikts Namen auf dem Cover, in dem der Ex-Papst auf eine äußerst ungewöhnliche Art in die brennheiße Diskussion um das Zölibat einzugreifen scheint. Erstens nur auf Französisch, zweitens zu einem Zeitpunkt, an dem die Welt auf eine Entscheidung seines Nachfolgers wartet: Wird Franziskus der Empfehlung der Amazonas-Synode folgen, verheiratete Priester erlauben und damit eine für die Zukunft des Zölibats in der Weltkirche wegweisende Entscheidung treffen?
Doch nicht genug des Ungewöhnlichen an diesem der „Presse“vorliegenden, kirchenpolitisch brisanten Buch. Die Frage ist, inwieweit Joseph Ratzinger in die Veröffentlichung involviert war. Vatikan-Journalisten meldeten unter Berufung auf Quellen aus Benedikts Umfeld, er sei es nicht gewesen. Dem „Corriere della sera“zufolge fordere er eine Klarstellung der Autorschaft.
Das Cover von „Des profondeurs de nos coeurs“– „Aus den Tiefen unserer Herzen“zeigt Ratzinger im Papstgewand und nennt ihn – anders als in sonstigen Publikationen, die auch seinen bürgerlichen Namen anführen – nur Benedikt XVI. (Benoˆıt XVI). Als CoAutor wird der konservative Kardinal und Präfekt der Gottesdienstkongregation Robert
Sarah genannt. Nur 43 von 180 Seiten umfasst Benedikts Zölibatstext „Das katholische Priestertum“. Jener Sarahs ist doppelt so lang, dazu kommen zwei als Koproduktion deklarierte Texte (Einleitung und Nachwort). Deren Stil weicht stark von jenem Benedikts ab, aber gar nicht von jenem in Sarahs Zölibatstext. Sarah stammt aus Guinea, seine Muttersprache ist Französisch, das erklärt auch die Veröffentlichung im französischen Fayard-Verlag.
Robert Sarah erklärte am Dienstag auf Twitter, Benedikt habe ihm seinen Text zur Verfügung gestellt, mit den Worten: „Ich überlasse es Ihnen, ob sie für meine bescheidenen Gedanken eine Verwendung finden.“Doch ob Benedikt wusste, dass er über seinen eigenen Text hinaus als Co-Autor geführt werden würde, ist derzeit völlig ungewiss. „Kein Kommentar“, verlautete auf Anfrage der „Presse“aus dem Fayard-Verlag.
Immerhin gibt es bislang keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass der einzige nur mit Benoˆıt XVI unterschriebene Text im Buch, „Le sacerdoce catholique“(„Das katholische Priestertum“), tatsächlich von ihm stammt. Verfasst wurde er laut Buch im September 2019, als die letzten Vorbereitungen zur im Oktober stattfindenden Amazonas-Synode im Gange waren. Seit Ende jenes Sommers, schreibt der Herausgeber des Buchs, Nicolas Diat, hätten Sarah und Benedikt „Texte, Gedanken und Vorschläge ausgetauscht. Sie haben einander getroffen, um größtmögliche Klarheit in die Seiten zu bringen, die sich hier öffnen.“
Klarer als alles in dem Buch ist Ratzingers eigener Beitrag. Auf der Klaviatur fundamentaltheologischer Begründungen spielt der 92-Jährige nach wie vor wie ein Pianist, dem in 80 Jahren Spiel „sein“Mozart in Fleisch und Blut übergegangen ist. In den Worten mag er weicher wirken als der Kardinal, in der Sache kann man härter als Ratzinger nicht sein: Der Zölibat gehöre „ontologisch“zum Priestertum, argumentiert er – ohne diesen kein Priestertum. Jesus habe einen neuen Kult geprägt, dessen Zentrum die „Einheit von Opfer und Liebe“sei. Priestertum in der Nachfolge Christi bedeute, „mit ihm eins zu werden und auf alles zu verzichten, das nur uns gehört“. Dazu gehöre der Verzicht auf Materielles ebenso wie der Zölibat. Der Priester müsse sich Gott und den Menschen ganz zur Verfügung stellen. Außerdem betreffe die Ehe als Geschenk Gottes „den Menschen in seiner Totalität“, wie das Priestertum. Deswegen seien diese Berufungen nicht vereinbar.
Seelsorgerische Argumente spielen in Benedikts Beitrag praktisch keine Rolle. Ganz anders bei Kardinal Sarah: Er schöpft in seiner Argumentation viel aus persönlichen, dem heutigen europäischen Glaubenshorizont fremden Erlebnissen. „Ich habe meine Kindheit in einer Welt verbracht, die gerade erst aus dem Heidentum herauskam“, schreibt er. „Meine Eltern haben das Christentum erst als Erwachsene kennengelernt.“Und er erzählt: „Wie gern hätte ich, dass alle meine Brüder in der Welt einmal diese Erfahrung der Ankunft eines Priesters in einem afrikanischen Dorf machen, das in ihm einen Bräutigam Christi sieht: was für eine Explosion von Freude! Was für ein Fest! Das Singen, das Tanzen, die Gefühlsausbrüche, das Essen drücken die Dankbarkeit des Volks für dieses Sich-Hingeben in Christus aus.“Verheiratete Priester würden, so Sarah „diese Erfahrung der Gegenwart und Ankunft des sich hingebenden Christus“verhindern. „Wie könnte eine christliche Gemeinschaft den Priester verstehen, wenn nicht deutlich ist, dass er der Sphäre des Gewöhnlichen entzogen ist? Wie könnten die Christen verstehen, dass der Priester sich ihnen hingibt, wenn er nicht völlig dem Vater hingegeben ist?“Man dürfe den Gläubigen keine „Priester zweiter Klasse“(also verheiratete) vorsetzen.