Verdis Totenmesse, von Muti neu vermessen
Musikverein. In seiner Messa da Requiem fasste Verdi die Ängste und Zweifel eines modernen Menschen in Töne. Für ihre Interpretation in diesem Sinn wurden Muti und die Seinen mit Standing Ovations gefeiert.
Wenn Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra im Musikverein zusammen mit dem Wiener Singverein und prominenten Solisten das Verdi-Requiem interpretieren, dann wird das nicht nur zu einem von Gesangsaficionados und Orchesterconnaisseurs gleichermaßen bejubelten Ereignis, sondern kommt einer musikalischen Neuvermessung des viel gespielten Werks gleich – nach Länge, Breite und Höhe. Oder, genauer: in den mit Bedacht gewählten dynamischen Extremwerten, in nie verhetzten, aber auch nicht zerfließenden Tempi, im Auskosten von Übergängen und mit Ritardandi angesteuerten Kulminationspunkten sowie im Ausloten transzendentaler Einsamkeit. Wie das aus einer einzelnen menschlichen Kehle klingt, führt zuletzt Krassimira Stoyanova vor mit ihren in der Höhe perlmuttschimmernden, in der Tiefe klagenden, bangen Seelentönen des „Libera me“.
Muti legt bei alldem jene Maßstäbe an, die er penibel aus Verdis Partituren und Kommentaren abgeleitet hat – natürlich auch aus seinen Opern. Es war erst die antimoderne Cäcilianismus-Bewegung des 19. Jahrhunderts, die den eher unfrommen Wunsch formulierte, die Kirchenmusik solle sich gefälligst an Palestrina orientieren und alle späteren „weltlichen“Einflüsse ausblenden. Verdi und sein Requiem galten da eine Zeit lang, historisch zu Unrecht, als Lieblingsfeinde der Puristen. Ihre Einwände müssen freilich vor der achtstimmigen „Sanctus“-Doppelfuge verstummen: Der großartige Wiener Singverein in der Rolle der himmlischen Heerscharen scheint dabei wie auf Wolken zu tanzen, so transparent tönt das, und so leichtfüßig mit den exakt trippelnden Achteln der Streicher. Muti duldet kein Schleppen – und nimmt den Schlussakkorden jede blecherne Erdenschwere, so als würden sie über den Köpfen schweben.
Ansonsten bleibt man konsequent dem Irdischen verhaftet, wenn sich das dramatisch Überwältigende und das Tiefgründige verbinden. Denn, so spricht es aus Mutis Deutung, Verdi hat diese Totenmesse nicht geschrieben, um Hinterbliebene zu trösten und das Vertrauen auf ein Leben nach dem Tod zu stärken, sondern um Ängste und Zweifel eines modernen Menschen in Töne zu fassen. Chor und Solisten singen oder flüstern gleichsam um ihr Leben, sei es dieses oder das nächste. Immer geht es Muti um den Wortsinn, das flehentliche oder demütige Gebet, nicht die leere Schönheit der Melodien. Bei den schaudererregenden Zornesausbrüchen des „Dies irae“scheint der Musikverein in seinen Grundfesten zu erzittern – aber abseits von kollektiver Panik, Kanonendonner und Fanfarengeschmetter und dem Gänsehaut erzeugenden Schluss wird das „Lacrimosa“zu einem Höhepunkt der Innerlichkeit. Da zeigt das in allen Gruppen brillante und zugleich geschmeidige Chicago Symphony Orchestra mit sehrenden Begleitakkorden der Streicher und schluchzenden Holzbläsern, wie man den Stimmen einen roten Teppich ausrollt, ohne selbst dabei zur bloßen Staffage zu verkommen. Der Stoyanova treten Daniela Barcellona mit vokal vollreifer Selbstentäußerung und Riccardo Zanellato mit in Würde gealtertem Bass zur Seite, während Francesco Meli immer wieder mit gut fokussierter, poetischer Halbstimme erfreut, aber dennoch vorführt, wie schmal der Grat zwischen vor Inbrunst bebendem Herzen und herkömmlichem Tenorheroismus sein kann.