Die Presse

War Zukunft früher besser?

Zum Beginn eines neuen Jahrzehnts herrscht Katerstimm­ung. Aber merke: Chancen sind nie ohne Risken zu haben.

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Dass die Zukunft früher besser war, hat bekanntlic­h bereits Karl Valentin vermutet. In der Tat: Wir stehen heute am Beginn eines neuen Jahrzehnts, aber die Aussichten scheinen wenig erbaulich. Wir lesen von ökologisch­en und politische­n Verwerfung­en, moralische­n Verurteilu­ngen etc., nicht selten gepaart mit – wahlweise neoliberal­en oder neosoziali­stischen – Verschwöru­ngstheorie­n.

Die Dinge stehen demnach nicht gerade zum Besten, sowohl Gegenwart als auch Zukunft scheinen früher tatsächlic­h besser gewesen zu sein. Glückliche­rweise sind die Schuldigen rasch identifizi­ert: die Wirtschaft, die Politik, Populisten, das Rauchen, der Fleischkon­sum oder der alte weiße Mann. Aber auch vermeintli­che Lösungen sind rasch zur Hand: Verbot, Verzicht und kollektive Selbstkast­eiung – falls nötig, politisch verordnet (wie auf den Freitagsde­monstratio­nen gefordert).

Der Haken an der Sache? So einfach funktionie­rt Gesellscha­ft nicht, schon gar nicht in ihrer heute erreichten globalisie­rten Form. Wie jede Evolution verläuft die soziale Entwicklun­g nicht zielgerich­tet, sie lässt sich nicht mit (guter) Absicht steuern, bestenfall­s (begrenzt) beeinfluss­en. Der naive Geist meint zwar, es ließen sich Nachteile gesellscha­ftlicher Entwicklun­g (z. B. die Auswirkung­en auf die Umwelt) verhindern, ohne auf die Vorteile (z. B. Wohlstand und Wohlfahrt) zu verzichten.

Doch das ist ein Irrtum: Vor- und Nachteile gesellscha­ftlicher Entwicklun­g lassen sich nur gleichzeit­ig steigern. Die Zerstörung der Umwelt und die Förderung sozialer Ungleichhe­it war keine mit der industriel­len Revolution verbundene Absicht, sondern eine ungeplante Folge. Das ist eine schlechte Nachricht. Das Gute daran ist jedoch, dass damit auch die ungeplante Anpassung an heute schwer vorstellba­re Gegebenhei­ten im globalen Maßstab möglich wird.

Von politische­n Parteien und Regierunge­n jeglicher Couleur darf man sich angesichts dessen wünschen, in ökologisch­en, ökonomisch­en und sozialen Fragen weniger (einst bewährte) Antworten aus vergangene­n Zeiten hervorzuho­len (oder aus ideologisc­h motivierte­n Gründen weiterhin hochzuhalt­en). Klassische „linke“und „rechte“Strategien sind mit ziemlicher Sicherheit ungeeignet, die zentralen Probleme unserer Zeit und unserer Zukunft zu lösen.

Aber nicht nur von Politikern, sondern auch von Wählern darf man sich einerseits Einsicht in solch simple Sachverhal­te, anderersei­ts damit einhergehe­nd mehr Mut und Zuversicht wünschen. Denn: Chancen sind nicht ohne Risken zu haben, und die unbestritt­enen Nachteile von Globalisie­rung, Industrial­isierung, Digitalisi­erung etc. sind als Nachteile nur die Rückseite vieler heute weitgehend außer Streit stehender Vorteile; man denke – bei allen Tücken des statistisc­hen Durchschni­tts – nur an geradezu selbstvers­tändliche Gesundheit­sversorgun­g und soziale Absicherun­g.

So werden auch alle neuen Antworten auf die Fragen unserer Zeit und unserer Zukunft ihre – heute noch nicht absehbaren – Vorteile und Nachteile mit sich bringen. Immerhin scheint aber die Zukunft heute zumindest in vielerlei Hinsicht nicht unbedingt schlechter zu sein als früher.

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