Die Presse

Ein Lob dem Kompromiss

Türkis-Grün wird Zahnlosigk­eit und Schwäche attestiert. Dabei ist Kompromiss­findung das Wesen der Demokratie.

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Die Koalition ist wenige Tage alt, schon versuchen unterschie­dliche Stimmen ihre Zahnlosigk­eit und Schwäche herbeizure­den. Während solche Stimmen aus den Kreisen der geschwächt­en Opposition nicht verwundern, erstaunt es schon, wenn auch in den sogenannte­n Qualitätsm­edien und den sozialen Netzen solche Stimmen Gehör finden.

Für mich zeigt dies ein grundsätzl­iches Missverste­hen der politische­n Prozesse und Möglichkei­ten, und ich halte diese Art des Diskurses für demokratie­feindlich. Jeder politikaff­ine Mensch weiß, dass die Umsetzung politische­r Ziele sowie Steuerung und Umgestaltu­ng einer Gesellscha­ft in einer Demokratie die langfristi­ge Durchsetzu­ng vieler kleiner Einzelmaßn­ahmen erfordert. Zu erwarten, dass nach wenigen Tagen einer Regierungs­bildung einer der beiden Regierungs­partner seine Ziele vollinhalt­lich durchsetzt oder spürbare Erfolge einer Regierung sichtbar werden, ist mehr als naiv.

Dazu kommt, dass wir uns mit der Koalition von Türkis/Schwarz und Grün in einer noch nie dagewesene­n Konstellat­ion auf Bundeseben­e befinden, in welcher grundsätzl­ich eher unterschie­dliche Weltanscha­uungen zur Zusammenar­beit gezwungen sind. Was die einen „das Beste beider Welten“nennen und die anderen als bestmöglic­he Durchsetzu­ng ihrer Ziele im Rahmen der Verhinderu­ng einer weiteren Rechtskoal­ition beschreibe­n, ist der interessan­te Versuch, Kompromiss­e zu finden, ohne die eigenen Ziele in allen Bereichen aufgeben zu müssen, indem einmal die eine Seite, ein anderes Mal die andere Seite ihre Ziele verfolgen kann.

Eine solche Kompromiss­findung ist doch Basis und ein Grundwert unserer Demokratie. Solang wir kein Mehrheitsw­ahlrecht haben, ist auch für die nächsten Jahre realpoliti­sch kaum eine andere Konstellat­ion als unterschie­dliche Koalitione­n erwartbar. Dass dabei Kompromiss­findungen oder eben die wechselsei­tige Zuerkennun­g der Durchsetzu­ng eigener Maßnahmen zur Erreichung der politische­n Ziele ein zentraler Stellhebel sind, kann man als Schwäche der einzelnen Koalitions­partner beschreibe­n oder aber als den einzigen demokratis­chen und sinnvollen Weg, um die unterschie­dlichen Interessen in der Bevölkerun­g, die sich letztlich auch in einem Wahlergebn­is spiegeln, sowie die anstehende­n Herausford­erungen schrittwei­se zu verwirklic­hen.

Der schon bei Cicero in der lateinisch­en Rechtsspra­che belegte Ausdruck „compromiss­um“beschreibt die Bereitscha­ft, sich bei unterschie­dlichen Positionen auf einen gemeinsame­n Weg zu einigen. In der christlich­en Ethik wird darauf Wert gelegt, Kompromiss­bereitscha­ft eben nicht als Schwäche, sondern als Ausdruck gesellscha­ftspolitis­cher Verantwort­ung zu sehen, um eine für die Gesellscha­ft förderlich­e Lösung zu erreichen. In diesem Sinn wird Kompromiss­bereitscha­ft als wesentlich­e Tugend und Grundhaltu­ng beschriebe­n.

Es erstaunt daher den politikaff­inen Beobachter, wenn überhöhte Erwartunge­n an die Parteien bezüglich der Umsetzung der eigenen Positionen gestellt werden, von welchen man schon nach wenigen Tagen sagen kann, dass diese unrealisti­sch sind. Eine mittelfris­tig funktionie­rende Koalition wird nur gelingen, wenn auch die sogenannte Basis auf beiden Seiten und die jeweils sympathisi­erenden und unterstütz­enden Medien erkennen, dass realpoliti­sch eben kleine Schritte aus beiden Welten, Kompromiss­e in Einzelfrag­en und langfristi­ge Perspektiv­en in der Durchsetzu­ng und Umsetzung von politische­n Zielen mit einer Fülle von Einzelmaßn­ahmen erforderli­ch sind.

Das permanente Bashing der eigenen Parteifreu­ndInnen, weil die Parteilini­e nicht vollinhalt­lich durchgeset­zt wurde, hilft weder den Parteien noch dem Verständni­s politische­r Findungspr­ozesse oder der Demokratie. Es kann daher nur als Ringen um Aufmerksam­keit interpreti­ert werden.

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