Kapituliert hier der Rechtsstaat?
Reportage. Die Drogenkriminalität im Görlitzer Park ufert aus. Es wird gedealt, während Mütter ihre Kinderwagen vorbeischieben. Aber viele irritiert das nicht. Berlin-Kreuzberg eben.
Eine Gruppe afrikanischer Dealer belagert den Fußweg, der in Berlins berüchtigtste Grünanlage führt. Einer der jungen Männer nähert sich. „Was willst du?“, fragt er auf Englisch. Also welche Drogen. Man gibt sich neugierig: „Was hast du?“Er fragt wieder zurück: „Was willst du?“Man gibt sich als Journalist zu erkennen. Der Mann wird jetzt ungehalten. „Hau ab“, faucht er. „Hau ab.“
Er folgt einem noch ein paar Schritte: „This is African street!“, schreit er. Das hier sei also die Straße der Afrikaner. Wobei man sich streng genommen in der Wiener Straße im Szeneviertel BerlinKreuzberg aufhält, genauer vor dem Eingang zum Görlitzer Park.
Der „Görli“, wie die Berliner das 14 Hektar große Areal liebevoll nennen, führt ein seltsames Doppelleben. Er ist zum einen Naherholungsgebiet im Herzen Berlins. Im Sommer bevölkern Tausende Sonnenanbeter die Grünanlage. Auch Kindergelächter gehört zum Grundrauschen des Görli. Es gibt hier einen Bauernhof, einen Spiel- und Fußballplatz, Yogakurse, aber eben auch ein seltsames Nebeneinander. Denn der Görli ist zweitens Berlins bekanntester Rauschgiftpark. Zu Spitzenzeiten im Sommer sollen sich hier 200 Dealer aufhalten.
Die Kriminalität ufert aus. Im Vorjahr hat die Zahl der Delikte im Park noch einmal angezogen. „Es gibt Gewaltausbrüche zwischen den Dealern, aber auch ein aggressiveres Verkaufen“, erklärte jüngst Berlins Polizeipräsidentin, Barbara Slowik. Die Dealer stünden zunehmend selbst unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Und das mache sie „insgesamt aggressiver und unbeherrschter“. Die Polizei kündigte deshalb eine härtere Gangart an. Schon jetzt gibt es mobile Polizeiwachen im Park. Wenn auch weiterhin nicht rund um die Uhr. Denn dafür fehlen die Mittel.
Es ist nasskalt. Ein typischer Berliner Wintertag. Im Görli ist nicht viel los. Zwei Männer werfen einander Frisbeescheiben zu. Ein paar Anrainer führen ihre Hunde aus. Aber die Dealer sind in der Überzahl. Auch die Polizei zeigt Präsenz. Ein Mercedes-Bus mit Beamten fährt auf und ab. Nähert sich die mobile Polizeiwache, schwärmen die Dealer aus. Ist sie außer Sichtweite, kehren sie zurück. Es ist ein Katz-und-MausSpiel, das auch die Hilflosigkeit der Behörden andeutet. Die meisten Dealer wollen nicht mit Journalisten reden, wie sie einem bedeuten oder auf Englisch oder Französisch nicht unfreundlich erklären. Einer deutet auf den Polizeibus.
Ganz in der Nähe hält Irene ihren vier Jahre alten Sohn an der Hand, der dick eingepackt ist, eine Haube mit Hasenohren über den Kopf gezogen hat. Die Szenerie mit den Dealern irritiert die Mutter nicht. Das sei eben so in Kreuzberg, meint sie sinngemäß. Es gibt aber sicher in Berlin Bezirke, in denen das nicht passieren könnte – also hier Dealer und gleich daneben Mütter mit Kindern. Aber die 40-jährige Akupunkturistin stört das nicht. Seit 19 Jahren wohnt sie hier im Kiez. Übergriffe im Görli habe sie nie erlebt. Nein, die Dealer seien nett. Man grüße sich gegenseitig und halte sonst Abstand. Kritik übt sie nur an der Polizei: „Die veranstalten hier ein großes Theater.“Die Beamten machten regelrecht „Jagd auf diese Menschen“, behauptet sie.
Kreuzberg tickt anders als der Rest der Republik. Hier mischen sich das linksbürgerliche Bürgertum und eine Multikulti-Arbeiterszene. 2016 haben Bezirk, Anrainer und Sozialarbeiter ein Handlungskonzept für den Park entworfen. Darin stehen Sätze wie: „Keine Gruppe im Park sollte ausschließlich als Problemverursacher gesehen werden.“Und niemand soll ausgeschlossen werden, wie die grüne Bezirksbürgermeisterin, Monika Hermann, erklärt. Sie meinte offenbar auch
Dealer, die 2019 vom sogenannten Park-Rat zu einem Fußballturnier im Görli eingeladen wurden.
Wobei es freilich auch Anrainer gibt, die entnervt wegziehen, den Park meiden oder die lasche Drogenpolitik anprangern. Auch im Rest der Republik wundert man sich über das Treiben. Der Görli sorgt regelmäßig für Schlagzeilen, zum Beispiel, wenn der neu eingesetzte Parkmanager mit rosafarbenem Spray Stellplätze für Dealer an einem Eingang einzeichnet. Das sollte verhindern, dass Besucher des Görli übermäßig bedrängt werden. Niemand hielt sich daran. Und Kritiker sahen in der Aktion eine Kapitulation des Rechtsstaats. Sie halten den Görli ohnedies für ein Mahnmal falsch verstandener Toleranz.
Im Dezember kam die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, in den Park. „Ich war überrascht“, sagte die CSUPolitikerin danach. „Leider im negativen Sinn.“Im Park herrsche ein rechtsfreier Raum. Auch die Berliner CDU schimpft über die Laisser-faire-Politik, die sich zum Beispiel darin ausdrückt, dass man in Berlin straffrei 15 Gramm Cannabis als Eigenbedarf mitführen darf, mehr als in den meisten anderen Bundesländern.
Ulrike schiebt den Kinderwagen über einen Gehweg im Park. Eine Gruppe junger Dealer steht ein paar Meter weiter und beobachtet die Szene. Ulrike ignoriert sie. Sie schaut auf ihre 16 Monate alte Tochter Klara. Früher und ohne Kinderwagen sei sie öfters „angemacht worden“, sagt die 29-Jährige, eine gebürtige Hamburgerin. „Das war schon echt übel und hat mich manchmal wütend gemacht.“Angst hat sie im Park aber nicht. Also nicht untertags. Nachts hätte sie hier aber schon ein „mulmiges Gefühl“. Gegen die Dealer, meint sie, helfe am ehesten noch, Cannabis zu legalisieren.
Djula aus Gambia hält davon nichts. „Dann gelangen die jungen Leute zu leicht an den Stoff“, sagt er. Der 38-jährige Lehrer arbeitet als Freiwilliger für ein Sozialprojekt, das sich um die Menschen im Park kümmert. Er schlichtet Streit zwischen den Dealern. Er passt aber auch auf, dass die Dealer keine Schwangeren und Kinder anreden. „Da schreite ich ein“, sagt er. Djula kann buchstäblich mit fast allen hier reden. Er spricht fünf afrikanische Dialekte, Englisch, Italienisch und ein bisschen Deutsch.
Die Dealer aus dem Park zu vertreiben, hält er für Unsinn: „Wo gehen sie dann hin? In die umliegenden Straßen, wo man sie viel schlechter im Blick hat als hier.“Es ist das zentrale Argument der Gegner eines härteren Durchgreifens der Polizei. Djula meint, die meisten Dealer hier seien ungebildet und dürften auch nicht arbeiten. Mit dem Drogenverkauf verdienten sie 300 Euro im Monat, schätzt er. Was im Park im Umlauf ist? Djula zählt auf: „Also vor allem Gras.“Aber auch Kokain, Ecstasy, Speed. Also alles „außer Heroin“.
In einem Gebüsch sieht man später, wie Drogen den Besitzer wechseln. Der Polizeibus ist gerade nicht da.