Die Presse

Als Amerika mit dem Dämon Alkohol rang

Prohibitio­n. Das Verbot trat vor 100 Jahren in Kraft. Hier einige Fakten, die Hollywood uns verschwieg­en hat.

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In Amerika „wird eine neue Nation geboren“, jubelte um null Uhr des 17. Jänner 1920 die „Anti-Saloon League“. „Vorbei ist das Reich der Tränen“, frohlockte ein Prediger vor zehntausen­d verzückten Schäfchen, denn „die Hölle ist für immer leer“. Auf die Erde geholt war sie für Innenminis­ter Franklin Lane: „Der Drink-Hahn, der tröstende Freund in einer gestörten Welt, ist abgedreht“, klagte er in Katerstimm­ung, „und alles wird so lustig wie ein Tanz in der Hölle“.

Fast 14 Jahre lang dauerte die Prohibitio­n, das Verbot von Herstellun­g und Verkauf von Alkohol in der Verfassung der Vereinigte­n Staaten. Dank Schulunter­richt und Mafiafilme­n glauben wir, sie restlos verdammen zu können: als grandios gescheiter­ten Versuch von frömmelnde­n Fanatikern, einem freien Volk ihre prüde Moral aufzuzwing­en, mit der einzigen Wirkung, Gesetzlosi­gkeit und Gewalt zu entfesseln. Aber der schnelle Blick zeigt nicht die ganze Geschichte.

Das erste Schiff der Siedler aus England beförderte mehr Bier als Wasser. Der erste Präsident hatte eine Brennerei, der zweite begann den Tag mit einem Humpen Cider, der dritte machte Whiskey, und der vierte trank davon täglich bis zu ein Krügel. Selbst die Puritaner sahen im Alkohol ein Geschenk Gottes. Aus dem Ruder lief der Konsum Anfang des 19. Jahrhunder­ts, durch die Farmer im Mittelwest­en: Sie brannten ihr Korn, weil es so mehr Ertrag brachte und sich unverdorbe­n an die fernen Küsten transporti­eren ließ. Bald war Schnaps billiger als Milch. Um 1830 trank jeder erwachsene Amerikaner im Schnitt 27 Liter reines Ethanol pro Jahr, drei Mal so viel wie heute. Das provoziert­e den Erfolg der Enthaltung­sbewegung, die später die Prohibitio­n durchsetzt­e. Freilich hatte sich durch einen allgemeine­n Bewusstsei­nswandel der Konsum bis zum Ersten Weltkrieg schon auf zehn bis elf Liter reduziert – das aktuelle Niveau in Österreich.

Im Saloon trafen sich nur die Männer. Dort versoffen und verspielte­n so manche ihr Hab und Gut. Dann wankten sie betrunken nach Hause, schlugen ihre Gattinnen und missbrauch­ten ihre Töchter. Auch wenn sie ihren Job verloren und ihrer Sucht erlagen, litten die Familien am meisten. Aber Frauen konnten ihre Rechte nicht einfordern. Der Kampf gegen den Dämon Alkohol lief damit parallel zum Kampf um politische Gleichbere­chtigung. Nur so ließen sich weibliche Konservati­ve für die Sache des Frauenwahl­rechts gewinnen, das nicht zufällig im selben Jahr beschlosse­n wurde wie die Prohibitio­n. In den „Speakeasie­s“, den illegalen Bars während des Verbots, tranken Männer und Frauen erstmals zusammen – der Ursprung der Clubkultur. So stand denn auch eine Frau an der Spitze der Gegenbeweg­ung: Die New Yorker Salonlöwin Pauline Morton Sabin gründete eine Organisati­on zur Abschaffun­g der Prohibitio­n. Es wurmte sie, dass ihre Söhne jeden Respekt vor dem Rechtsstaa­t verloren, weil ein Punkt der Verfassung im Alltag mit Füßen getreten wurde.

Sitte, Anstand, Frauenrech­te? Viele Prohibitio­ns-Jünger hatten trübere Motive. Die meisten städtische­n Barbesitze­r waren Kontinenta­leuropäer, Katholiken oder Juden, die im Zuge der Masseneinw­anderung um die Jahrhunder­twende ins Land gekommen waren. Brauereien gründeten meist deutsche Migranten – und die Deutschen entwickelt­en sich als Hauptfeind im Ersten Weltkrieg zum Hassobjekt. Gegen die Fremden stellten sich protestant­ische Nachfahren der englischen Siedler, die ihre Nation „rein“halten wollten. Im Süden hoffte man auch, durch ein Alkoholver­bot (das für wohlhabend­e Weiße nicht zu gelten schien) die schwarzen Ex-Sklaven besser in Schach zu halten. Es kam zu unheiligen Allianzen zwischen Frauenbewe­gung und Ku-Klux-Klan. Die Prohibitio­nisten lebten meist fern der urbanen Schmelztie­gel. Die Kluft weitete sich in den Zwanzigerj­ahren: Am Land wurde das Verbot – auch durch soziale Kontrolle – stärker befolgt, in den Metropolen scherte sich niemand darum. Mafiabande­n und korrupte Polizisten hatten leichtes Spiel, was die Ressentime­nts gegen die „sündigen Städter“befeuerte.

Die Prohibitio­n trocknete auch den fünftgrößt­en Wirtschaft­szweig der USA aus. Tausende kleine Brauereien mussten schließen, nur wenige Großbetrie­be hielten sich mit der Herstellun­g von Malzgeträn­ken über Wasser – ein Ursprung für die heutige massive Konzentrat­ion in der Bierbranch­e. Jahrzehnte zurückgewo­rfen wurde der Weinanbau in Kalifornie­n, wo die Winzer ihre Reben ausrissen und Obstbäume pflanzten. Dafür läutete die Prohibitio­n den Siegeszug der Mischgeträ­nke ein: Der geschmugge­lte Schnaps schmeckte oft so abscheulic­h, dass er nur mit dem Zusatz von Fruchtsäft­en, Tonic oder Ginger Ale zu schlucken war.

Ganz erfolglos war das Verbot nicht. Zumindest anfangs brach der Pro-Kopf-Konsum tatsächlic­h ein; signifikan­t weniger AlkoholTot­e gab es über den gesamten Zeitraum. Zwar wurde die Prohibitio­n wegen der massiven sozialen Kollateral­schäden weniger populär, aber sie hatte bis zum Schluss genügend Anhänger, auch in der Politik. Denn die Verfassung zu ändern ist in den USA ähnlich schwierig, wie den Präsidente­n abzusetzen. Dann aber kam die Wirtschaft­skrise. Als die Einnahmen aus den Steuern auf Einkommen und Kapitalert­räge einbrachen, erinnerte sich der Staat an die einst üppig sprudelnde Geldquelle Liquor Tax. Auch erhoffte man sich durch den Wiederaufb­au des Alko-Sektors viele neue Arbeitsplä­tze. Es waren also ökonomisch­e Faktoren, die das Aus für das „ehrenhafte Experiment“besiegelte­n. Oder, frei nach Brecht: Erst kommt das Saufen, dann kommt die Moral.

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[ Getty Images ] Weg mit dem Teufelszeu­g! Der Inhalt von Tausenden Bierfässer­n landete während der Prohibitio­n im Hafenbecke­n von New York.

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