Eulen gehen immer – Raben auch
Zwei Euro kostete das alte Taschenbuch aus dem S. Fischer Verlag in einem Wiener Antiquariat. 1964 erschienen, enthält es witzige Prosatexte des einstmals berühmten, „absurden“Autors Eug`ene Ionesco und zeigt überdies auf seinem Vorsatzblatt eine kleine, hübsche Eigenheit: Unter das Verlags-Signet der drei stilisierten Fische ist ein abstraktes Ornament mit moderner Anmutung gestempelt. Zwei Zentimeter hoch, sechs Zentimeter breit, umrahmt es eine Schrift, die in Versalien mitteilt: EX LIBRIS DR. VOLKMAR PARSCHALK. Damit weiß der Käufer, wer dieses Taschenbuch vor ihm besessen hat: der 2016 verstorbene RadioKulturjournalist Volkmar Parschalk. Zu seinen vielen Verdiensten gehört die Erfindung des Ö1-Literaturmagazins „Ex libris“, und es kommt wie gerufen, dass die Sendung denselben Namen trägt wie das grafische Element, das dieses eine Buch von anderen unterscheidet und zu genauerer Betrachtung einlädt.
„Ex libris“oder „Exlibris“: Der lateinische Begriff bezeichnet ein – meist künstlerisch gestaltetes – Namensschild, das in ein Buch gestempelt oder eingeklebt wird. Es gehört nicht zu den notwendigen Bestandteilen eines Buchs, sondern ist eine „exemplarspezifische Besonderheit“, wie die Buchkunde es nennt. Seine Hauptaufgabe besteht darin, den Besitzer des Buches namhaft zu machen. Darüber hinaus vermittelt das Exlibris jedoch sichtbare Auskünfte über den materiellen Status und die geistige Statur des Buchbesitzers. Dieser ästhetische Überschuss macht das Exlibris zu einem kulturgeschichtlich interessanten Studienobjekt, das in Vereinen wie der Österreichischen Exlibris Gesellschaft auch gesammelt und erforscht wird. Wie Kunstgeschichte und Buchwissenschaft einhellig versichern, war das künstlerisch gestaltete Exlibris eine Folgeerscheinung von Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern im Jahr 1445. Das Buch, das vorher vor allem in Klöstern und Universitäten heimisch war, wurde nun auch für wohlhabende Privatleute erschwinglich, und so entstand der Wunsch nach einem repräsentativen Eigentumsvermerk.
Zu den ersten bekannten Buchsammlern in Deutschland gehörte der Nürnberger Patrizier und Gelehrte Willibald Pirckheimer. Ungefähr im Jahr 1503 (ganz genau weiß man es nicht) ließ er sich ein prächtiges Exlibris entwerfen, das ihn als den wahren Eigentümer seiner Bücher ausweist: „Liber Bilibaldi Pirckheimer“steht in der Lieblingssprache der Humanisten am unteren Rand des grafischen Blattes – ein Buch des Willibald Pirckheimer.
Diese Information ist jedoch von einer prächtigen Inszenierung umgeben: Im Zentrum schwebt das Pirkheimersche Wappen, das von zwei Engeln gehalten und von üppigen Ornamenten umrahmt wird. Am oberen Rand des Blattes wird der biblische Satz „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“auf Hebräisch, Griechisch und Latein, nicht aber auf Deutsch zitiert. Außerdem findet sich noch Platz für die Worte „sibi et amicis“(für sich und die Freunde).
Der Gelehrte war der Mittelpunkt eines Kreises von Honoratioren, Wissenschaftlern und Künstlern, seine Bibliothek stand allen Interessenten zur Benutzung offen.
Das Pirckheimer-Exlibris zählt zu den frühesten und grandiosesten Beispielen seiner Art. Selbstverständlich wird sein Wert dadurch gesteigert, dass der Freund und Kupferstecher, der das Blatt entworfen hat, Albrecht Dürer gewesen ist. Er gehörte zu Pirckheimers engstem Nürnberger Umfeld. Auch andere namhafte Künstler dieser Zeit – Hans Baldung Grien, Lucas Cranach der Ältere, Hans Holbein der Jüngere – haben Exlibris entworfen und damit von Anfang an bekundet, dass da eine Spielart der angewandten Kunst entstand, für die sich kein Meister zu schade sein musste.
Entsprach Dürers Entwurf noch ganz den Konventionen der Heraldik – im Zentrum das Wappen, darüber das sinnstiftende Motto, auch „Devise“genannt –, bewegten sich später geborene Künstler in freieren Bahnen. In immer neuen Kupferstichen, Radierungen, Holzschnitten und später auch Lithografien pflegten sie ein formenreiches Genre der Gebrauchsgrafik. Die Aufgabe, den Besitzer nicht nur zu nennen, sondern auch bildlich zu kennzeichnen, blieb zwar immer gleich, aber die Bildprogramme erweiterten sich erheblich. Berufsspezifische Symbole medizinische Geräte für Ärzte gorische Darstellungen des Lesens und der Liebe zu Büchern. Da gibt es etwa den Menschen, der Früchte von einem Baum pflückt. Denn wie in den Blättern des Baums die Früchte, so verbergen sich in den Blättern der Bücher die Erkenntnisse, die der Leser ernten kann. Da sich die Konvention, dem Exlibris-Bild ein Losungswort beizugeben, über die Jahrhunderte erhalten hat, wurde das Baumbild gern durch den Satz „Inter Folia Fructus“(zwischen den Blättern die Frucht) ergänzt.
Einen künstlerischen Höhepunkt erreichte die Exlibris-Kunst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Damals gehörte es zu den bildungsbürgerlichen Statussymbolen, bei prominenten Künstlern originell gestaltete Exlibris in Auftrag zu geben. Max Klinger, Alfred Kubin, Franz von Bayros und viele andere sind weit über die tradierten Bildprogramme hinausgegangen. Neben Landschaften, Interieurs und pflanzenhaftjugendstilartigen Ornamenten zeichneten sie aufwendige Denkbilder, in denen vor allem die Beziehung des Menschen zum Buch gestaltet wurde. Erotische, zuweilen auch obszöne Motive – etwa verführerische Nackte, die dem Leser die kontemplative Ruhe rauben – waren so beliebt wie makabre: ein Schädel neben einem Buch, lesende Skelette, Grabsteine mit der Inschrift „Ex Libris“. Dem Lebensgefühl des Fin de Si`ecle entsprechend, traten Eros und Thanatos zuweilen auch gemeinsam auf – etwa, indem das alte Motiv „Der Tod und das Mädchen“zeitgemäß variiert wurde. Der Wiener Kunsthistoriker Richard Kurt Donin hat diese späte Blüte in seiner „Stilgeschichte des Exlibris“(1949) als „künstlerische Höhe des Buchzeichens“und als dessen „Niedergang“zugleich beschrieben. Denn je elaborierter die Entwürfe wurden, desto häufiger verfehlten sie den ursprünglichen Zweck des Exlibris. Die grafischen Blätter wurden unabhängig vom Buch auf dem Kunstmarkt angeboten – wobei sich der prominente Name eines Bucheigentümers auch außerhalb seiner Bibliothek als wertsteigernd erweisen konnte.
Und wie steht es heute um die ExlibrisKunst? Das 2011 erschienene „Lexikon der Bibliotheks- und Informationswissenschaft“ zieht ein skeptisches Resümee: „Seit Jahrzehnten ist der praktische Gebrauch von E. sehr rückläufig. E. sind Kleingrafiken für spezialisierte Sammler geworden.“Das mag im Großen und Ganzen zutreffen, sagt aber nur die halbe Wahrheit. Denn das Exlibris ist nach wie vor lebendig, mögen sich seine Funktionen und seine Reichweite auch geändert haben. Im Internet findet sich mehr darüber als im wissenschaftlichen Lexikon: Auf diversen Websites werden individuell gestaltete Exlibris angeboten.
Eine Künstlerin, die Exlibris auf Bestellung gestaltet, ist Daniela Hartl-Heisan. Sie lebt in Wien und hat der „Presse“ihre Arbeit erläutert. Die 1975 geborene Malerin und Grafikerin, die sich auch in der Wildlife Art als Tierporträtistin einen Namen gemacht hat, bietet seit 2003 künstlerisch gestaltete Exlibris an, 350 verschiedene Entwürfe hat sie bisher verkauft. Ihre Kundinnen und Kunden sind in Europa, China, den USA und Australien verstreut. Nur der InternetAuftritt, meint Hartl-Heisan, mache es möglich, eine Exlibris-Werkstatt zu unterhalten, denn er eröffne das weltweite Interesse der wenigen, die bereit sind, für 100 Exemplare eines persönlichen Exlibris circa 235 Euro auszugeben. „Es ist eine kleine Nische“, erklärt die Künstlerin.
Hartl-Heisan hat einen Motivkatalog im Angebot, aber sie kommt auch Sonderwünschen ihrer Kundschaft entgegen. Nicht mit dem PC, sondern altmeisterlich mit der Feder zeichnet sie einen Entwurf, scannt ihn ein, der Auftraggeber bekommt ihn per E-Mail zu sehen, ist zufrieden oder schlägt Änderungen vor. „Exlibris-Zeichnen ist eine echte Auftragskunst“, sagt die Künstlerin. Sie empfindet die Kooperation mit Käuferinnen und Käufern nicht als Einschränkung ihrer Kreativität. Im Gegenteil: Es interessiert sie immer wieder aufs Neue, welche Wünsche an sie herangetragen werden.
Drei Motive sind nach Hartl-Heisans Erfahrung besonders begehrt: die Eule – die auch ihr eigener Favorit ist – der Baum und das Buch. (Nebenbei bemerkt die Künstlerin, dass die Eule in den USA oft durch den Raben ersetzt werde.) Natürlich lassen sich diese Motive auch kombinieren: Die Eule kann ein Buch lesen, aus dem Buch kann ein Baum herauswachsen und so weiter. Andere Gestaltungen sind ebenso möglich.
QEin bedenkenswertes Paradoxon besteht darin, dass die Kundschaft, die auf avanciertem technologischem Weg mit der Künstlerin kommuniziert, dennoch ein Faible für traditionelle Bildprogramme zu haben scheint: Auch Ärzte, die online kommunizieren, sehen gern den Äskulap-Stab in ihren Büchern, Guts- und Schlossbesitzer ihre Immobilie, Aristokraten ihr Wappen.
Sehr gefragt sind Jugendstil-Ornamente oder formschöne Pflanzen wie das Blatt des Ginkgo-Baums. Gelegentlich werden auch erotische Motive gewünscht, hetero- und homosexuelle gleichermaßen. Ebenfalls beliebt sind Namensallegorien, die schon immer im Gebrauch waren: Eines der ältesten bekannten Exlibris wurde circa 1470 für einen Kaplan namens Igler gezeichnet: Es zeigt einen Igel, der einen Blütenzweig im Maul trägt. An solche Spielereien lässt sich heute noch anknüpfen.
Daniela Hartl-Heisan weiß, dass die Exlibris-Kunst vor allem bei Akademikern auf Interesse stößt, die über ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein verfügen. Die Vermutung des Journalisten, dass die ExlibrisPflege dem altbekannten bürgerlichen Repräsentationsbedürfnis diene, teilt die Künstlerin allerdings nicht. Kaum jemand lasse sich noch ein Exlibris anfertigen, um dem Freundes- oder Kollegenkreis zu imponieren, meint sie. Es gehe vielmehr um die Steigerung der eigenen Freude am Buch und der Bibliothek.
Außerdem seien Exlibris auch sehr gut als Geschenk geeignet: Kinder schenken sie der Mutter, Enkel dem Großvater und so weiter. Diese intimen Verwendungszwecke weisen darauf hin, dass das alte Bucheignerzeichen zwar seinen ikonografischen Konventionen treu bleibt, aber dennoch andere Funktionen erfüllt als früher: weniger öffentliche Selbstdarstellung, mehr privater Selbstgenuss. Doch trägt dieser Funktionswandel offensichtlich dazu bei, dass eine schöne künstlerische Praxis auch in neuer Umgebung weiterlebt.
Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, lebt in Wien. Dr. phil. Publizist, Literaturwissenschaftler. Bis Frühjahr 2018 Redakteur der Wiener Zeitung“Daniela