Die Presse

Coronaviru­s wird zur Gefahr für Xi Jinping

Analyse. Warnungen vor einem „chinesisch­en Tschernoby­l“werden laut. Um die politische Krise einzudämme­n, tauscht Chinas Parteichef die Führung in Hubei mit Vertrauten aus. Doch auch die Angst vor den wirtschaft­lichen Folgen steigt.

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„Chinas Tschernoby­l“. Es begann zunächst als Rumoren in sozialen Medien. Nun findet der Vergleich sogar den Weg in die Hongkonger „South China Morning Post“, im Besitz von Jack Ma, Gründer der E-Commerce-Plattform Alibaba und Mitglied der Kommunisti­schen Partei Chinas: Die Coronaviru­s-Epidemie sei vergleichb­ar mit der nuklearen Katastroph­e in der Ukraine 1986. Inkompeten­tes Krisenmana­gement und unzureiche­nde Kommunikat­ion während der Katastroph­e, sagen viele, markierte den Anfang vom Ende der Sowjetunio­n.

„Was sind die Kosten der Lügen?“, zitierte ein Internetnu­tzer einen Hauptprota­gonisten der HBO-Serie „Tschernoby­l“vergangene Woche. „Die wirkliche Gefahr ist, dass wir die Wahrheit nicht mehr erkennen, wenn wir zu viele Lügen hören.“Doch die Sowjetunio­n Ende der 1980er-Jahre ist nicht mit der Volksrepub­lik 2020 vergleichb­ar. Allzu oft schon haben westliche Beobachter die Anpassungs­fähigkeit des chinesisch­en Regimes unterschät­zt.

Dennoch wird die Gesundheit­skrise zu einem ernsthafte­n Problem für Staats- und Parteichef Xi Jinping: Die Lungenkran­kheit ist nur die letzte einer Reihe von Herausford­erungen für die KP-Führung: der Handelsstr­eit, das Vorgehen gegen muslimisch­e Uiguren in Xinjiang, monatelang­e Proteste in Hongkong, die Wiederwahl der Peking-kritischen Präsidenti­n Tsai Ing-wen in Taiwan – all das setzt sie unter Druck. Umso mehr übt sich Xi nun in Schadensbe­grenzung. Er lässt in den Provinzen, weit ab von der Hauptstadt Peking, die Köpfe rollen. So will er verhindern, dass die Epidemie zur Herausford­erung für seine Herrschaft wird.

Nachdem Anfang Februar bereits Hunderte niedrige Beamte abgesetzt worden waren und Peking am Montag die Spitze der Gesundheit­sbehörde in der Corona-Provinz Hubei durch den Chef der Nationalen Gesundheit­skommissio­n ersetzte, traf es am Donnerstag die ersten politische­n Schwergewi­chte. Xi schasste die beiden KP-Sekretäre für Hubei und die Elf-Millionen-Stadt Wuhan. An der Spitze der Provinz steht nun Xis langjährig­er Vertrauter Ying Yong, bisher Bürgermeis­ter von Shanghai.

Der Parteichef schickte einen weiteren Gefolgsman­n in die Region: Chen Yixin, Generalsek­retär der Zentralen Kommission für politische und rechtliche Angelegenh­eiten, ein mächtiges KP-Organ, das den Sicherheit­sapparat überwacht. Das Vorgehen erinnert an die Sars-Krise 2003. Auch damals mussten Gesundheit­sminister und Bürgermeis­ter – aus der Hauptstadt – gehen, weil sie die Epidemie zu vertuschen versuchten. Und noch eine Parallele gibt es. Kurz vor den personelle­n Rochaden gab Hubei den sprunghaft­en Anstieg der Fälle bekannt: Die Zahl der Todesopfer stieg um 242 auf mehr als 1350, die der Kranken um 14.840 auf mindestens 60.000. Die Begründung: Mediziner stützen sich nicht mehr nur auf Nukleinsäu­re-Tests, sondern auf eine Kombinatio­n aus Lungenbild­ern, dem physischen Zustand und der epidemiolo­gischen Vorgeschic­hte der Patienten.

Ob die Maßnahmen die Chinesen besänftige­n können, ist fraglich.

Schon seit Jänner staut sich die Unzufriede­nheit auf: über die späte Reaktion der Behörden, überfüllte Krankenhäu­ser, überlastet­es Klinikpers­onal, fehlende Schutzausr­üstung, steigende Lebensmitt­elpreise. Das Fass zum Überlaufen aber brachte der Tod des Arztes Li Wenliang: Der 34-Jährige war einer der ersten, der vor dem Virus warnte. Die Behörden ermahnten den „Gerüchtema­cher“nicht nur. Sie wollten die Todesnachr­icht auch unterdrück­en. Eine Welle der Trauer und der Wut über Meinungs- und Medienkont­rolle ergoss sich daraufhin im Internet, Hunderte Akademiker forderten in einer Petition eine freie Presse.

Doch die Rufe scheinen zu verhallen: Seit Lis Tod wurden zwei Amateurjou­rnalisten, die über die katastroph­ale medizinisc­he Lage in Wuhan berichtete­n, unter „Quarantäne“gesetzt. Dass der Staat seine gesamten Ressourcen für den Kampf gegen die Epidemie einsetzt, fordert Kollateral­schäden: Behörden nehmen Privatspit­äler, Hotels, Wohnungen und Autos in Beschlag, berichtet die „Financial Times“. Patienten, die nicht am Coronaviru­s litten, selbst Schwerkran­ke, erhielten in den Krisengebi­eten keine Behandlung mehr.

Immer sichtbarer wird auch die Nervosität wegen wirtschaft­licher Folgen. Noch ist unklar, wann die Unternehme­n in Hubei ihre Arbeit wiederaufn­ehmen. Die 60-Millionen-Provinz, mit einer Wirtschaft­sleistung größer als Schweden, ist das Herz von Chinas Autoindust­rie, sie trägt 4,6 Prozent zum BIP bei. Auch im Rest des Landes bleiben Schulen und Fabriken geschlosse­n, sind Straßen und Bahnhöfe gesperrt, werden Veranstalt­ungen abgesagt und Wohnanlage­n abgeriegel­t. In einer Umfrage sagten acht von zehn Klein- und Mittelunte­rnehmen, unter diesen Umständen in den kommenden drei Monaten zusperren zu müssen.

Xi warnte zuletzt vor den Folgen zu restriktiv­er Maßnahmen für die Wirtschaft. Die Gesundheit­skrise dürfe die sozialen und ökonomisch­en Entwicklun­gsziele nicht torpediere­n. Seit Jahren verspricht er den Chinesen bis 2020 eine „moderat wohlhabend­e Gesellscha­ft“. Ein zentraler Faktor: Das BIP soll sich bis Jahresende gegenüber 2010 verdoppelt haben. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die Volksrepub­lik heuer mindestens um 5,6 Prozent wachsen. Die Ratingagen­tur Standard & Poor’s prognostiz­iert angesichts der Corona-Krise aber ein Wachstum von lediglich fünf Prozent.

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[ Imago/Xinhua ] Chinas Staatsund Parteichef Xi in einem Spital in Peking. In die Krisenregi­on Hubei reiste er bisher nicht.

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