Die Presse

Belvedere: Wo die Avantgarde nachts tanzte

Kunst und Leben. Was für eine wunderbare, lebendige Ausstellun­g: „Into the Night. Die Avantgarde im Nachtcafe“´ führt die Betrachter an der Hand an die verruchten Orte, wo radikal neue Kunst entstand. Von Wien bis Teheran und Osogbo.

-

Period Rooms“nennt man einen luxuriösen Kunstgriff im internatio­nalen Ausstellun­gsbetrieb, der sich hierzuland­e nie richtig durchgeset­zt hat: Einen ganzen Raum im Stil einer Epoche zu gestalten. Stellen Sie sich vor, mitten in einem Wien-um-1900-Interieur zu stehen. Im Wiener-Werkstätte­n-Gesamtkuns­twerk der 1945 zerbombten Fledermaus-Bar auf der Kärntner Straße, zum Beispiel. Sie können!

Im ganzen Unteren Belvedere samt Orangerie – und das ist selten großzügig – erstreckt sich jetzt eine fantastisc­he Ausstellun­g, die mit genau diesen sinnlichen Entführung­en in andere Zeiten, an andere Orte arbeitet. Ein – heute würde man sagen immersiver – Genuss, der in seinem großen Aufwand einer Kooperatio­n des Belvedere mit dem Londoner Barbican Center zu verdanken ist. Zwölf legendäre nächtliche Szene-Treffpunkt­e der Avantgarde­n in Europa, aber auch in den USA, Südamerika, Afrika und dem Nahen Osten hat Kuratorin Florence Ostende ausgesucht, um ihre These zu untermauer­n, vielleicht eher auch zu begießen oder zu umtanzen: Die Avantgarde­n der Moderne nutzten Nachtclubs als „Inkubatore­n für radikales Denken“, wo sie ihre interdiszi­plinären Modelle für ein anderes gesellscha­ftliches Leben, für ihre Utopien entwickelt­en und testeten.

Mit dem „Chat Noir“in Paris fängt diese Geschichte des Künstler-Clubs in den 1880erJahr­en an. Historisti­sch überladen noch war das Ambiente, so voll von Bildern der damaligen neuen Wilden der Impression­isten aber, dass man es den „Louvre von Montmartre“nannte. Hier wurde eine satirische Kunstform etabliert, die sich interessan­terweise durch viele dieser Avantgarde-Cafes´ zog: ein Schattenth­eater, das auch internatio­nal tourte. Diesen diversen Schattenth­eater-Figuren wird derart viel Raum gewidmet in der Ausstellun­gs-Inszenieru­ng – ganze Säle! –, dass man sich doch fragt, warum. Wirken sie auf uns als pure Objekte ohne Stimmen, ohne Inhalte doch eher harmlos, sentimenta­l, retro.

Es ging dabei anscheinen­d um die Kraft der formalen Reduktion, die allein schon Neues, Widerständ­iges impliziert­e. Bis ins Heute, bis zu den Scherensch­nitten einer Kara Walker kann man das verfolgen. Sie kann sich damit auf die grafische Sprache eines Aaron Douglas berufen, der mit seinen holzschnit­thaften Plakaten, Buchcover und Zeichnunge­n die „Harlem Renaissanc­e“in den 1920er-Jahren in New York prägte und damit auch ein neues afroamerik­anisches Selbstbewu­sstsein: Wandfüllen­d ist der Stadtplan, der nur einen Bruchteil der über 500 Jazz- und Blues-Clubs Harlems zeigt.

Auch Teile der Gestaltung der MbariKunst­clubs im Nigeria der 1960er-Jahre – das jüngste Beispiel – gehen in diese Richtung, steht man vor der Rekonstruk­tion der besonders dynamische­n, abstrakten Symbole, mit denen Uche Okeko die Außenwand des Clubs in Ibadan schmückte. Hier trafen sich auf der Suche nach postkoloni­aler Selbstfind­ung heimische und westliche Künstler, begründet von dem zeitweilig­en Paar Ulli Beier und der österreich­ischen Aussteiger-Künstlerin und Yoruba-Priesterin Susanne Wenger, die dem Mbari-Club in Osogbo eine – ja, scherensch­nittartige – Skulpturen-Front beisteuert­e, ebenfalls im Belvedere nachgebaut.

Die Wiener Tradition der Künstlerca­fes´ ist nicht zu leugnen in der hier erzählten Geschichte: Auch Londons erstes Cabaret mit künstleris­ch-avantgardi­stischem Anspruch, „Cave of the Golden Calf“, wurde von einer Wienerin, Frida Strindberg, gegründet und 1912 bis 1914 wirtschaft­lich eher desaströs geführt. Wien. Vielleicht hat man hier einen leicht voreingeno­mmenen, allzu wohlwollen­den Blick aufs Eigene, lief uns doch gleich in den 1920er-Jahren Berlin dermaßen den Rang in punkto Nachtleben ab, wie man vor Bildern von George Grosz, Otto Dix oder Jeanne Mammen anerkennen muss.

Davor hatten wir immerhin das Kabarett Fledermaus. Im Eröffnungs­programm 1907 dort zu sehen: Oskar Kokoschkas erster öffentlich­er Auftritt, mit dem Lichttheat­er „Das getupfte Ei“, beeinfluss­t von einer asiatische­n Schattensp­ieltraditi­on, was sonst.

Das Fledermaus-Kapitel birgt eine weitere Premiere: Über eineinhalb Jahre hat man dafür auf der Angewandte­n in mühsamer Recherche, geleitet von Archiv-Leiterin Cosima Rainer, den Bar-Raum der Fledermaus „nachempfun­den“. Denn es gibt praktisch keine Dokumentat­ion dieses Gesamtkuns­twerks. Nur ein Schwarz-Weiß-Foto existiert von der Bar, nur ein Grundriss, den ein Le Corbusier aus dem Stegreif aufs Papier warf. Endlich steht man aber selbst in dem bunt gekachelte­n Raum, jede der einst 2000 Künstler-Fliesen wirkt anders. Aus den Lautsprech­ern dringt originale Klaviermus­ik. Dennoch, der Charme fehlt. Die Flaschen. Die Möbel. Man fühlt sich eher im Badezimmer-Schauraum der Moderne, als in ihrem dunklen Herzen. Auch das eine Erkenntnis.

 ?? [ Johannes Stoll, Belvedere Wien] ?? Dahinter sieht man sie schon leuchten: Die „nachempfun­dene“Bar des 1945 zerstörten Kabarett Fledermaus in der Kärntner Straße, jetzt in der Orangerie des Unteren Belvedere.
[ Johannes Stoll, Belvedere Wien] Dahinter sieht man sie schon leuchten: Die „nachempfun­dene“Bar des 1945 zerstörten Kabarett Fledermaus in der Kärntner Straße, jetzt in der Orangerie des Unteren Belvedere.

Newspapers in German

Newspapers from Austria