Die Presse

Wo Kanzler Kurz nicht unrecht hat, aber trotzdem falsch abbiegt

Wenn sich die ÖVP so vor politische­r Abhängigke­it der Justiz sorgt, warum lässt sie dann Vergleichb­ares auf einem anderen wichtigen Gebiet zu?

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Dass die politische­n Parteien ihre Finger in allen staatliche­n oder staatsnahe­n Organen haben, die auch nur im Mindesten von irgendeine­m Interesse sind, ist bekanntlic­h fest in der hiesigen Realverfas­sung verankert. Die jüngste, vom Bundeskanz­ler ausgelöste Diskussion um die Unabhängig­keit der Staatsanwä­lte von der Politik mutet daher ein wenig weltfremd an. Natürlich hat jede Partei ein Interesse daran, Leute ihres Vertrauens in diesen wichtigen Institutio­nen zu haben. Ob man das „Netzwerke“nennt oder nicht, ist Geschmacks­sache. Aber anzunehmen, dass Anklagebeh­örden im politikfre­ien Raum agieren, ohne dass etwa einzelne Behördenve­rtreter nicht gelegentli­ch darüber nachdenken, welches Verhalten welche Auswirkung­en auf ihre Karriere hat, ist überschaub­ar realistisc­h.

Mit Recht kann man einwenden, dass sich die diesbezügl­ichen Verhältnis­se auf lange Sicht doch etwas verbessert haben; die Zeiten, in denen (sozialdemo­kratische) Ankläger „Die Suppe ist zu dünn“befanden, wenn Genossen sich schwerer Straftaten bis hin zum Mord (Affäre Lucona etwa) schuldig gemacht hatten, sind glückliche­rweise vorbei.

Aber noch 2013 hatte beispielsw­eise Werner Zinkl, damals Präsident der Richterver­einigung, die Besetzung des neuen Verwaltung­sgerichts mit einem roten und einem schwarzen Kandidaten kritisiert: „Der beste Start für ein Gericht ist das nicht . . . Da bleibt ein schlechter Beigeschma­ck.“Nachdem die Justiz wohl immer staatlich betrieben werden wird und daher im Gravitatio­nsfeld der Parteien agieren muss, wird sich das auch nie wirklich lösen lassen. Wo Staat draufsteht, sind immer Parteien drinnen, geht nicht anders.

Die Forderunge­n der ÖVP nach mehr Unabhängig­keit der Justiz wären freilich ein wenig besser fundiert, betriebe die Kanzlerpar­tei die Trennung von Parteipoli­tik und wichtigen Institutio­nen wenigstens dort voran, wo das viel leichter und einfacher ist als in der Justiz – in der Wirtschaft. Doch betrüblich­erweise fehlt es der ÖVP, wenn es um die weitere und notwendige Entstaatli­chung der Wirtschaft geht, an jeglichem Tatendrang. Den Begriff der „Privatisie­rung“scheinen die Türkisen völlig aus ihrem Vokabular gestrichen zu haben. Mit jener ÖVP, die vor 20 Jahren Österreich­s größten Industriek­onzern, die Voest, höchst erfolgreic­h privatisie­rt hat, scheint die neue Volksparte­i nicht einmal entfernt verwandt zu sein. Der Slogan „Mehr privat, weniger Staat“, mit dem Schüssel einst geworben hatte, bevor er ihn als Kanzler verwirklic­hte, dürfte mittlerwei­le als toxischer Sondermüll im Weltall entsorgt worden sein.

Mehr noch: Ganz offensicht­lich plant die staatliche Industrieh­olding Öbag, die Anteile an der OMV, der Post, der Verbundges­ellschaft, der A1-Gruppe, den Casinos Austria und vielen anderen wichtigen Unternehme­n hält, im heurigen Jahr und darüber hinaus wieder bisher private Unternehme­n und/oder Anteile daran zu erwerben. Also zu verstaatli­chen. Es existiert bereits eine vertraulic­he Liste von rund 100 Unternehme­n, an denen sich die Staatshold­ing möglicherw­eise beteiligen will, und zwar mit Beträgen von je 100 Millionen Euro oder deutlich mehr. Davon, dass der ressortzus­tändige Finanzmini­ster, Gernot Blümel (ÖVP), diesem Treiben ein Ende setzen will, ist leider nichts bekannt.

Das ist für eine Partei, die sich als Vertreteri­n der freien Marktwirts­chaft sieht, ein originelle­r Ansatz. Durchaus zu Recht hat die Neos-Chefin, Beate Meinl-Reisinger, auf diese Absurdität hingewiese­n, freilich ohne Erfolg. Dass der Staat Unternehme­n nicht privatisie­rt, sondern verstaatli­cht, gilt in Österreich offenbar parteiüber­greifend als zulässiges Mittel der Politik, geradezu als lebten wir zu Zeiten des real existieren­den Sozialismu­s.

Die Klagen der ÖVP über die mangelnde Unabhängig­keit der Justiz von der Politik würden deutlich an Glaubwürdi­gkeit gewinnen, löste die ÖVP dieses Problem dort, wo sie es leicht könnte – anstatt es noch zu vergrößern.

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VON CHRISTIAN ORTNER

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