Traue keinem, der privat lebt!
Digitalisierung. Früher gab es Anstandsdamen, heute überwachen wir uns gegenseitig per App. Diese Kontrolle unterhöhlt das Vertrauen – und beendet die kurze Ära einer Privatsphäre, die über fast die ganze Menschheitsgeschichte unbekannt war.
Ähnlich ergeht es Babysittern, sie werden gern mit „Nanny Cams“überwacht. Professionelle Hundeausführer müssen ihre Schritte im Park per GPS verfolgen lassen. Und ein heimischer Softwareentwickler ist groß im Geschäft mit einem Programm, das Vertriebsleitern anzeigt, wo sich ihre Außendienstmitarbeiter herumtreiben – vorbei ist es mit der Freiheit dieses Berufsstandes.
Die Tendenz zeigt: Privatheit ist nicht nur durch Geheimdienste und die Datengier der Internetkonzerne in Gefahr. Wir verwandeln uns selbst in Anstandsdamen und ihre Schützlinge. Das Private ist dann kein wünschenswerter Hafen mehr, sondern eine Zone der Gefahr, die Gelegenheit zu unerwünschtem Verhalten schafft. Als vertrauenswürdig gilt, wer sein Tun nachverfolgen lässt. In sozialen Netzwerken stacheln wir uns gegenseitig zur Selbstentblößung an.
Wer sich abschirmt, wirkt verdächtig und erntet Argwohn. Früher galt: Je mehr ich jemandem vertraue, desto mehr gebe ich von mir preis. Das dreht sich nun um: Wer nicht alles von sich preisgibt, sich nicht freiwillig kontrollieren lässt, dem misstrauen wir. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Dann braucht es in letzter Konsequenz auch kein Vertrauen mehr. Sie schafft sich ab.
Damit verlernen wir eine Tugend, die wir mühsam eingeübt haben: sich darauf zu verlassen, dass andere keinen Unfug treiben, wenn sie nicht um uns sind – was auch Großmut und Respekt erfordert. Viel Zeit hatte dieses Vertrauen nicht, sich voll zu entwickeln.
Denn die Privatheit ist, wie Liebesheirat und Kleinfamilie, eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters, keine 200 Jahre alt. Sie hatte zeitlebens mit Widerständen zu kämpfen. Dass sich etwa jeder in sein eigenes kleines Zimmer zurückziehen kann, erweckte anfangs starkes Misstrauen. Zumindest im Salon hatte eine alte Jungfer aus dem Familienbestand zu sitzen, die allen Gesprächen lauschte. Einer dieser Kompromisse, zu denen auch die Anstandsdame gehörte – sie sollten die Privatheit abschwächen und ihr einen achtbaren Anstrich verleihen. In allen Epochen davor war die Privatsphäre ohnehin unbekannt. Jäger und Sammler teilten sich Bett und Hütte. Kinder sahen beim Sex ihrer Eltern zu. Die Ethnologen haben in Stammesgesellschaften erfahren: Es gibt zwar den Wunsch, sich zurückzuziehen, aber dazu fehlt meist die Möglichkeit. Man muss ja zusammenbleiben, um sich gegen Angriffe von wilden Tieren oder Nachbarn verteidigen zu können. Wer sich absondert, verbannt sich selbst.
Ähnlich sah man das auch noch im antiken Athen: Ein häusliches Leben war Frauen und Kindern vorbehalten. Der zurückgezogen lebende Mann wurde hingegen verachtet. Platon schreibt in seinen „Gesetzen“: Es gibt „kein größeres Gut für einen Staat“, „als wenn seine Bürger einander genau kennen. Denn wo sie kein Licht über ihre gegenseitigen Eigenschaften haben, da dürfte keinem je die ihm gebührende Ehre noch das ihm zukommende Recht zuteilwerden.“Auch in der „Res Publica“der Römer war alles öffentlich. Die „Privatio“bedeutete ihnen nur Beraubung und Entbehrung.
Später saßen in unseren Breiten alle zusammen im einzigen beheizten Raum. Auf dem Bauernhof gesellte sich das Nutzvieh dazu. Das große Bett war das teuerste Möbel, auf ihm traf sich die Familie, auch Gäste schliefen darin. Selbst Adelige, die viel mehr Platz hatten, teilten ihren Alltag: Am Hof von Versailles war die Morgentoilette des Königs ein gesellschaftliches Ereignis. Auch für jeden kleinen Grafen, der halb nackt aus dem Bett stieg, stand der Kammerdiener schon bereit. Noch weniger ungestört lebten die Menschen in den kollektiven Kulturen Asiens – die Papierwände traditioneller japanischer Häuser verraten mehr, als sie verbergen.
Nur Mönche durften sich absondern, um ihre inneren Dämonen zu überwinden. Bis der Buchdruck auch für breite Schichten einen Anlass schuf, Zeit mit sich allein zu verbringen. Aber erst mit dem Biedermeier geriet das Private zur Standardeinstellung des menschlichen Lebens, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Achtung seiner Sphäre als Menschenrecht in Gesetzen verankert. Eine flüchtige Episode?
Schon die Achtundsechziger missbilligten den „bürgerlichen Wert“und stellten ihm das Ideal der Kommune entgegen. Ihre Ideologie hat sich nicht durchgesetzt, die neue Technologie umso mehr. Und so „sharen“wir nicht nur Autos, Tretroller und Fremdenzimmer, sondern auch unser Leben. Oh, du viktorianische Gegenwart!