Der Mensch, die Moral und das liebe Tier
Tiere sind sozialer und klüger als lange Zeit gedacht. Welche praktische Relevanz diese Fertigkeiten inklusive ihrer Moralfähigkeit für Tierethik und Tierschutz haben, wird am Wiener Messerli-Forschungsinstitut untersucht.
Schimpansen, die Empathie zeigen und uneigennützig ihrer Pflegerin helfen, indem sie zum Beispiel einen zu Boden gefallenen Schwamm aufheben. Delfine, die ein einfaches grammatikalisches Verständnis besitzen. Ratten, die einander aus Plexiglasröhren befreien. Und Elefanten, die sich gegenseitig trösten. Die naturwissenschaftliche Forschung nimmt uns auf immer schillerndere Reisen in die Welt der komplexen Fertigkeiten von Tieren mit.
Seit den 1960er-Jahren wird das Feld der Intelligenz und der Emotionen von Tieren intensiv und systematisch beackert. „Das ist verständlich, denn es ist faszinierend“, sagt die Philosophin und Tierethikerin Judith Benz-Schwarzburg. Sie legt ihren Finger allerdings in die Wunde der in dem Zusammenhang zu selten gezogenen Schlüsse: „Warum sollte uns das interessieren?“Oder um es mit dem Philosophen Albert Schweitzer zu sagen: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Tür zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen.“
Benz-Schwarzburg zieht nicht die Forschung an sich, sondern vielmehr den konkreten Umgang mit in jüngerer Vergangenheit gewonnenem Wissen in der Mensch-TierBeziehung aus moralischer Sicht in Zweifel. Darf der Mensch angesichts neuer Erkenntnisse Tiere weiterhin einsperren, essen und sie zu wissenschaftlichen Zwecken nutzen? Sie geht dieser Frage am Messerli-Forschungsinstitut – einem universitären Kompetenzzentrum zur Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung der VetMed-Uni, der Med-Uni sowie der Uni Wien – nach, wo sie ein dreijähriges vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt zur Moralfähigkeit von Tieren leitet.
Als akademische Disziplin institutionalisierte sich die Tierethik in den 1970er-Jahren. Die philosophische Debatte hat einige höchst kontroverse Kapitel – etwa das Ringen mit der utilitaristischen Position eines ihrer Mitbegründer, des Australiers Peter Singer. Dieser unterscheidet in moralischen Fragen nicht zwischen Tier und Mensch – logische Folge daraus ist eine vegetarische bzw. vegane Ernährung. Singer argumentiert jedoch, dass wissenschaftliche Versuche an einem Lebewesen dann gerechtfertigt seien, wenn sie für die Verringerung des Leides von vielen größte Bedeutung habe – etwa Heilung von Leukämie verspräche.
Die einzelnen Individuen, Menschen wie Tiere, werden in seiner Ethik einer Abwägungslogik unterzogen. Ein generelles Recht auf Leben haben sie nicht. Singers Zugang wird deshalb von vielen nicht nur als menschenfeindlich, sondern auch als unpraktikabel empfunden. Denn „Tierversuche sind keine unmittelbare Notlage, sondern alltägliche Forschungspraxis“, betont Benz-Schwarzburg.
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der EU-Kommission gibt erstmals einen Gesamtüberblick über die Anzahl der für Forschungszwecke verwendeten Tiere. Europaweit sind das mehr als 23 Millionen Lebewesen jährlich (siehe Kasten). Im Tierversuch werden neue wissenschaftliche Erkenntnis und das Töten bzw. auch das Leiden von Lebewesen abgewogen. Man könne nicht darauf verzichten, so die weitgehend akzeptierten Pro-Argumente. Es gehe um sichere Heilungsmethoden und wirksame sowie ausreichend geprüfte Medikamente.
Ausgangspunkt für die Arbeit von Benz-Schwarzburg sind – als Parameter für die Moralfähigkeit von Lebewesen – drei wesentliche Aspekte von Intelligenz: Kultur, Sprache und Theory of Mind, also das Vermögen, sich in die mentalen Zustände von anderen (etwa deren Wünsche, Überzeugungen und Wahrnehmungszustände) hineinzuversetzen. Die Philosophin nimmt empirische Befunde aus der kognitiven Ethnologie, der komparativen Psychologie und von verhaltensbiologischen Studien sowie ethische Diskussionen in den Blick, die sich mit diesen Bereichen der Verwandtschaft von Mensch und Tier beschäftigen.
Sie erforscht, wie sozio-kognitive Fähigkeiten bei Tieren – bekannt aus jüngeren Untersuchungen etwa zur Werkzeugherstellung bei Schimpansen und Krähen oder zum Sprachverständnis von Papageien – bislang in ethische Überlegungen eingeflossen sind. Selten, so ihr Befund. Ein rares Beispiel dafür sind das von der italienischen Philosophin Paola Cavalieri gemeinsam mit Singer initiierte „Great Ape Project“und dessen Ruf nach Grundrechten für Große Menschenaffen (Gorillas, Schimpansen, Bonobos und OrangUtans). Ihre Begründung: Die Tiere besitzen Fähigkeiten, die menschenähnlich sind.
Eine Konsequenz daraus wäre die Abschaffung von Tierversuchen an Menschenaffen, die vorrangig in den USA und vor allem mit Schimpansen durchgeführt werden. Benz-Schwarzburg kommt in ihrer bisherigen Arbeit zu dem Schluss, dass das „Great Ape Project“ein ethisch berechtigtes Anliegen vertritt. Um solche und andere praktischen Konsequenzen, die ein veränderter Blick auf die Fähigkeiten von (einigen) Tierarten mit sich bringt, geht es auch in ihrem FWF-Projekt – und zwar nicht nur für die Forschung, sondern auch für Landwirtschaft und Tierparks: „Wenn Schimpansen auf demselben kognitiven Niveau wie Dreijährige sind, dürfen wir sie dann noch im Zoo halten? Ziehen komplexe sozio-kognitive Fähigkeiten nicht komplexe psychische Bedürfnisse nach sich?“
Die Philosophin zieht breit gefasste Definitionen und progres