Institutionen ermöglichten und förderten Gewalt an Kindern
Sozialpädagogik. Unter dem Deckmantel der sogenannten Heilpädagogik wuchs in Kärnten jahrzehntelang ein System der Stigmatisierung, Pathologisierung und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Ein Forscherinnenteam hat die Vorfälle wissenschaftlich aufgearbe
Im Forschungsprojekt „Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen“hat ein Team um Ulrike Loch an der Universität Klagenfurt Gewalttaten untersucht, die über 40 Jahre in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und dem Landesjugendheim Rosental verübt wurden. Dafür wurde die Soziologin mit dem Menschenrechtspreis des Landes Kärnten ausgezeichnet.
„Da die heilpädagogischen Hauptakteure österreichweit agierten, sind die Ergebnisse des Forschungsprojekts nicht auf Kärnten zu beschränken“, unterstreicht Loch – sie ist mittlerweile an der Freien Universität Bozen tätig – die Bedeutung ihrer Erkenntnisse. „Die medizinisch ausgerichtete Heilpädagogik dominierte in den 1950er- bis 1970er-Jahren die Ausrichtung der Jugendwohlfahrt in Österreich.“Entsprechende Forschungsergebnisse liegen für Wien, Salzburg und Innsbruck vor.
Das Land Kärnten, der Träger des Landeskrankenhauses und die Universität Klagenfurt stellen sich ihrer Verantwortung für Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Landeseinrichtungen: Die Opferschutzkommission des Landes nimmt 2020 wegen der hohen Dunkelziffer, von der aufgrund der aktuellen Untersuchung ausgegangen wird, ihre Arbeit wieder auf.
Teufelskreis mit System
78 Interviews führten die Forscherinnen zwischen 2016 und 2019 mit Opfern und Experten und analysierten – nach Zustimmung der Betroffenen – Berichte der Jugendwohlfahrt, heilpädagogische Krankenakten und Akten der Opferschutzkommission des Landes Kärnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass institutionelle Strukturen im Gesundheitsbereich und der Jugendwohlfahrt die Gewalt ermöglichten und förderten.
Die Einrichtungen unterstützten sich systematisch gegenseitig in der Aufrechterhaltung „der totalen Institutionen, die immer mit Gewalt einhergehen“, sagt Loch. Erlitten Kinder und Jugendliche dort sexualisierte Gewalt und reagierten daraufhin auffällig oder mit Widerstand, erstellten Heilpädagogen Diagnosen und Gutachten, die es Jugendämtern ermöglichten, sie in Heime einzuweisen bzw. die Fremdunterbringung der Kinder im Krankenhaus oder im Heim fortzusetzen. Die Betroffenen gerieten dadurch in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht ausbrechen konnten. An der Erstellung derartiger Diagnosen waren an der Uni Klagenfurt tätige Wissenschaftler beteiligt, u. a. da Heilpädagogik dort einen Schwerpunkt darstellte. Ihre Verstrickung in das System der Gewalt wurde ebenfalls untersucht. Die Ergebnisse sollen im Sommer veröffentlicht werden.
Die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses wurde von 1969 bis 1985 vom Kinderarzt Franz Wurst geleitet, der auch heilpädagogische Theorien an der Universität Wien und auch in Klagenfurt lehrte. „Sein Verständnis von Heilpädagogik war biologistisch geprägt. Aus körperlichen Merkmalen wurden ein Krankheitsbild und Prognosen für die weitere Entwicklung der Kinder abgeleitet. Die heilpädagogische Diagnostik führte zu stigmatisierenden Gutachten, sie wurde in den Berichten der Jugendwohlfahrt fortgeschrieben. So entstand eine totale Institutionalisierung“, erklärt Loch das System, das jahrzehntelang unangefochten blieb. Wurst wurde 2002 nach längerem Verfahren wegen Beteiligung am Mord an seiner Ehefrau und sexualisierter Gewalt an sechzehn ehemaligen minderjährigen Patienten verurteilt. Er hatte Kinder oft bereits bei der Erstuntersuchung sexuell missbraucht und damit lebenslang traumatisiert.
Bestandteil von Lochs Studie waren auch Empfehlungen für die künftige Arbeit der Kinder und Jugendhilfe. Die Soziologin hält regelmäßige pädagogische Angebote von Mitarbeitern der Kinder- und Jugendanwaltschaften in Einrichtungen für unabdingbar, in denen Kinder untergebracht werden. „Kinder brauchen vertrauensvolle und unabhängige Ansprechpartner, die sich an den Kinderrechten orientieren. Außerdem ist es notwendig, die Elternarbeit auszubauen. Kinder, die guten Kontakt zu ihrer Familie haben, können eher vor gewaltvollen Übergriffen geschützt werden“, so Loch. Sie plädiert auch für Familien-Intensivbetreuerinnen mit traumapädagogischen und systemischen Ausbildungen in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe, um präventiv Fremdunterbringungen vorzubeugen.