Ein Phantom namens Italien
Monografien über Leonardo, Michelangelo und Machiavelli, eine Geschichte der Renaissance, des Papsttums und Familien wie die Medici und Borgia hat Volker Reinhardt, Professor in Fribourg, schon geschrieben. Dicht und konzis umreißt er in seinem neuen Buch den begrifflichen Rahmen: Kultur wird sehr weit gefasst, umspannt neben aller künstlerischen Leistung auch die Lebensformen des Alltags wie Volksreligiosität, Rituale, Feste und Fußball. Über der Fülle von Glanzpunkten der Kunst verliert Reinhardt nicht die Differenz von Eliten und Populärkultur, die Ungleichzeitigkeit zwischen Peripherie und Zentrum aus dem Auge.
Die Vielzahl der kulturellen Pole, der Stadtrepubliken und Fürstenhöfe, ergibt in vitaler Konkurrenz „jenseits dieser ungeheuren Vielfalt eine Einheit im Großen“und bringt in Italien eine „einzigartig innovative und produktive Kultur“hervor. „Macht und Schönheit“bedingen einander. Herrscherfamilien und eine viel früher als im restlichen Europa sich bildende Handelsaristokratie wetteifern darum, Künstlern und Intellektuellen ideale Schaffensmöglichkeiten zu bieten. Damit begründen sie die eigene Legitimation in einer Welt, in der der schöne Schein alle politischen und wirtschaftlichen Krisen überstrahlt und verdeckt.
Dem Autor ist bewusst, dass nationale Einheiten geschichtliche Konstrukte sind. Gerade für Italien sind das Mythen mit
Die Macht der Schönheit mannigfaltigen aufeinanderfolgenden Interpretationsverschiebungen. Territorial etwa im Verhältnis zum Mezzogiorno, aber auch im Bezug zu Antike und Christentum – sieht man sich als Erbe der römischen Republik oder des Imperiums? In welcher Weise hat die neue Religion die Traditionen des Altertums gewandelt beziehungsweise aufgehoben? Venedig, Florenz, Rom oder Pisa finden darauf unterschiedliche Antworten.
Nicht nur die innere Vielfalt macht es schwer, über „Italien“zu sprechen. Auch nach außen bildet sich keine geschlossene Einheit. Transnationalen Austauschprozessen ist Kultur zu allen Zeiten ausgesetzt; die Einflussnahme deutscher Reichsgeschichte, französischer und flämischer Kulturströme was man als Vorstufe zu einer Globalisierung sehen kann. Dennoch hält der Autor an der Idee einer italienischen Kulturgeschichte fest. Sie soll zeigen, wie Italien „als eine in eigener wie auch fremder Wahrnehmung fassbare Größe“verstanden wurde.
Die Tragfähigkeit eines solchen Projekts beweist Reinhardt in 50 gleich gewichteten Einzelstudien. Biografien, lokale Historien, Entstehungsgeschichten von Kunstwerken aller Sparten lassen sich wie in einem Nachschlagewerk isoliert betrachten. Doch bei kontinuierlicher Lektüre fügen sie sich zu einem animierenden Kaleidoskop, durch das sich ein roter Faden zieht: Nach dem Kapitel über Katharina von Siena fragt man sich, ob diese lokal Verehrte bedeutend genug sei, ebenso viel Platz wie Leonardo einzunehmen; wenn man ihr dann als „Leibheiliger“von Pius IX. begegnet, dessen kirchliche Restauration auf Mentalitäten und Geschichtsbilder bis weit ins 20. Jahrhundert nachwirkt, wird klar, wie raffiniert die Pfade durch ein vermeintliches Dickicht gelegt sind.
Besonders reizvoll sind eher entlegene Schauplätze: „Bilder und Blut der Baglioni“führt zu Spellos blutrünstigem Herrscherclan, dessen Familiengeschichte die der Atriden in den Schatten stellt – umso frommer das von Pintoricchio für sie geschaffene Andachtsbild! Man erinnert sich an den berührenden Giotto-Zyklus in der Arena-Kapelle als Sühnegabe einer der berüchtigsten Wuchererfamilien in Verona. Reinhardt brilliert auch als Kunsthistoriker in einfühlsamen Bildbeschreibungen von Höhepunkten des Kulturexports in den cisalpinen Raum – mit Rosso Fiorentino in Fontainebleau und Tie