5100 Kilometer Schaustrecke
Russland/Sibirien II. Die Transsib stimmt Reisende auf den Baikalsee ein. Sie könnten sich vier Tage lang einlesen. Kommen aber nicht dazu.
An die 5100 Kilometer von Moskau nach Irkutsk, das sind rund fünf Stunden Flug. Doch die Alternative klingt vielleicht verlockender: vier Nächte und drei Tage mit der Transsibirischen Eisenbahn. Die Entscheidung ist schnell gefallen: Endlich mit diesem sagenhaften Zug fahren – und zwar in einem durch. Aber wie lebt es sich in einem kleinen Abteil 74 Stunden lang? Aus Sorge, es könnte langweilig werden, kommen dicke Bücher, Filme und unzählige Podcasts ins Gepäck.
Am Moskauer Bahnhof Jaroslawl begrüßt Tatjana ihre Gäste, sie ist für den einzigen Erste-Klasse-Waggon des Zugs Rossya zuständig, der immer an ungeraden Tagen fährt. Sie sorgt für heißes Wasser im Samowar, sodass die Passagiere jederzeit eine Tasse Tee zubereiten können, verkauft kleine Snacks und hält die beiden Toiletten sauber. Das Abteil hat blaue Plüschsitze, in Kopfhöhe befinden sich kleine Klappfächer, die bald eingerichtet sind mit Waschzeug, Essen, Büchern. Kurz vor Mitternacht fährt die Transsib los, und schon schläft man herrlich in der frischen weißen Bettwäsche, begleitet vom singenden Fahrgeräusch und dem monotonen Rattern.
Es wird hell, am Fenster ziehen Wälder vorbei, Wälder und Wälder. Genauso ziehen die Tage vorbei, die Zeit ist belanglos geworden. Das Land ist weit, leer und entvölkert sich zusehends. Vor der Millionenstadt Perm wird die Landschaft offener mit rosa blühenden Gräsern, ab Omsk (1,15 Millionen Einwohner) sind noch kleine Siedlungen und Felder entlang der Strecke zu sehen. Richtung Krasnojarsk (knapp unter einer Million Einwohner) geht es bergauf, die weiß leuchtenden Birken weichen dunkelgrünen Nadelbäumen.
Die einzige Unterbrechung bringen die zehn- bis 25-minütigen Aufenthalte in den Stationen. Je weiter sich der Zug von Moskau entfernt, desto häufiger zieht Tatjana beim Aussteigen flachere Halbschuhe an und nicht mehr ihre Schuhe mit Bleistiftabsätzen, denn die Bahnsteige sind in schlechtem Zustand. Babuschkas bieten dort Himbeeren und frisch gebackene Bliny an, gefüllt mit Kraut, während zu Beginn der Reise nur die Frauen in den offiziellen Kiosken Essen und riesige Plüschtiere verkauft haben.
Essen kann man auch im Speisewagen, die Auswahl ist gering, es gibt Borschtsch (Rote-Rüben-Suppe mit variablen Gemüseanteilen) und Soljanka (Suppe mit Fleisch, Wurst oder Fisch sowie Salzgurken und Pilzen). Rundliche braune Kunstledersitze, zum Teil sorgfältig geflickt, verströmen 1960er-Jahre Flair, nach einer gewissen Zeit werden die Vorhänge aufgehängt – alle haben Zeit.
Wer duschen will, braucht auch Zeit. Zuerst registriert man sich in Waggon 4 und zahlt 150 Rubel (etwa zwei Euro) pro Person. Zur angegebenen Uhrzeit geht es ans andere Ende des Zugs zur heißen Dusche. Die dritte Klasse ist voll belegt, jeweils rund 50 Passagiere liegen, sitzen und essen auf den Stockbetten, manche hängen Leintücher dazwischen auf, um etwas Privatsphäre zu haben. Bewundernswert sind die ruhig spielenden Kinder, man sieht sie auch selten bei den Stationsaufenthalten draußen herumrennen.
Und dann ist plötzlich Irkutsk da, die sibirische Metropole mit ihren schönen Holzhäusern und ihrer Nähe (70 Kilometer) zum Baikalsee. Keinen Film gesehen, keinen einzigen Podcast gehört, das dicke Buch nicht ausgelesen. Dafür bleiben die Bilder der riesigen Wälder Sibiriens.