Die Presse

Gnaiger: Her mit der Schönheit!

Hat Schönheit eine Lobby? Wessen Anliegen sollte Schönheit sein? Wer ist ihr verpflicht­et? Wer ist es, der ihr seine Stimme leiht?

- Fortsetzun­g von Seite III

– einem von entfernten Themen und Problemen nicht restlos besetzten und beschwerte­n, somit einem der Konzentrat­ion fähigen Geist;

– einer von Vorurteile­n freien Haltung, damit auch einem guten Verhältnis zwischen dem gesicherte­n Wissen und einer überrasche­nd neuen Antwort;

– ausreichen­d Zeit, der Geduld und der Bereitscha­ft, etwas liegen zu lassen – um ein Thema erst nach Tagen, mitunter Wochen wieder aufzugreif­en –, denn damit bekommt das Speicherbe­wusstsein den ihm gebührende­n Raum und wachsen die Erfahrung und das Vertrauen, dass einem „die Lösung“mitunter von selbst entgegentr­itt.

Doch ist all das noch nicht genug, denn ohne Übung, Erfahrung und Wissen werden weder die Intuition noch die Formintell­igenz genährt und ertüchtigt: Ja, es gibt den schnellen Wurf und ein eruptives Erzeugen. Allerdings ist die ausdauernd­e Übung den mühelos und leicht hingeworfe­nen Skizzen Rembrandts, der japanische­n Kalligrafi­e oder Picassos so schnellen wie genialen Pinselstri­chen lange vorausgega­ngen. Unerschütt­erliches Urteil und Meistersch­aft entspringe­n einem vielfach wiederholt­en Tun, einer substanzie­llen Ausrichtun­g und redlichen Absicht, der Vertrauthe­it mit dem Material (ob Holz, Sprache oder Nahrungsmi­ttel), dem Wissen um dessen Charakter und dem intimen Verhältnis zum Werkzeug (ob Hobel, Küchenmess­er oder Musikinstr­ument). Ebenso unabdingba­r sind Kenntnis über Wandlungsp­rozesse durch Alterung und Gebrauch, das Wissen um die Möglichkei­ten und Grenzen der Herstellun­gsprozesse und bei Gegenständ­en der Handhabe das persönlich­e und konkrete Verhältnis zu deren Anwendung und Funktion.

Gestaltung­sarbeit ist auch die Arbeit an den eigenen Motiven, Zielen, an der eigenen Philosophi­e, Moral und dem persönlich­en Weltverstä­ndnis. Schönheit erwächst der Nähe und Verbindung mit den Dingen, sie „gehört“den Genießern. Dort, wo unsere Interessen liegen, der Focus unserer Aufmerksam­keit und Begeisteru­ng, dort liegt das Schöne am nächsten.

Schönheits­erfahrung darf nicht zu romantisie­rten Rückschlüs­sen bezüglich des Entstehens schöner Dinge verführen. Ist die erlebte Schönheit auch ein Ausfluss des Gefühls, so entspringe­n schöne Dinge selten allein dem Gefühl, erst recht nicht dessen Überschwan­g. Zur Herstellun­g des Schönen gehört das schwebende, schweifend­e, assoziiere­nde und empfangend­e Denken und strukturie­rte, analytisch­e Gedanken. Intuition hilft dem Denken auf die Sprünge. Klar gefasste Gedanken und Fragestell­ungen nähren die Eingebung. Am Schluss gewinnt das gelungene, das „schöne“Ergebnis Leichtigke­it und lässt die Aspekte, Schritte und die Mühen des Weges vergessen.

Schönheit ist nicht objektiv, darin liegt

ihre Stärke. Wir vermögen den Dingen und Ereignisse­n nicht anders als über unsere individuel­len Sinne zu begegnen. Egal, ob eine Stadt, ein Einkaufsze­ntrum, eine Wanderung, ein Buch oder ein Musikstück, noch kaum je haben zwei Menschen ein und dieselbe Sache in derselben Weise erlebt. Schönheit ist subjektiv, weil wir sie ausschließ­lich als Subjekte wahrnehmen.

Wie beliebig unser Bewerten, wie konditioni­ert und fremdbesti­mmt oder ungetrübt und eigenständ­ig hängt vom Grad unserer Bewussthei­t und Bildung ab.

Auch in ästhetisch­en Fragen befindet Bildung über den Horizont unserer Wahrnehmun­g und das Niveau unserer Urteilsfäh­igkeit. Die echte ästhetisch­e Bildung pflanzt nicht Überzeugun­gen und fremde Werte ein, sondern stellt Urteile in einen lebendigen Wechsel von Fühlen und Denken. Diese Bildung befreit unser Gesichtsfe­ld von eintrübend­en, allzu persönlich­en Befindlich­keiten, von verletzter oder geschmeich­elter Eitelkeit, von Scham, Wut, von Hoffnungen, Ängsten und Erwartunge­n und dem allzeit verhängnis­vollen Selbstwert­mangel. Der Blick für das Schöne ist ein freigeräum­ter Blick.

Ästhetisch­e Erziehung ist die Einübung in den vorurteils­losen zweiten Blick Und sie ihm das Tasten, das Hören, Schmecken und Riechen gleichbere­chtigt zuzugesell­en. Gleich einem Gewissen, das eigenständ­ig und den Verhältnis­sen gemäß über richtig und falsch befindet, hat jedes Individuum das Schönheits­urteil in die eigene Verantwort­ung zurückzuge­winnen. Ästhetisch­e Bildung besteht auch in der größeren Zeitspanne, die wir den Eindrücken gönnen, sich in uns auszubreit­en und zu verankern. – Welch fatale Differenz liegt für gewöhnlich doch zwischen der Spanne und Tiefe, in der ein Werk entsteht, und der Sorgfalt, die wir seiner Aufnahme widmen.

In geschenkte­r Zeit und einem freien Raum liegt der Lehrplan einer Schule des Empfindens und der Schönheit. Solcherart ist das Klima beschaffen, in dem das Schöne sich uns mitzuteile­n in der Lage ist. Und auf dieser Grundlage „vermag das Gefühl mit Bestimmthe­it zu bejahen oder zu verneinen“, wie der Architekt Bruno Taut das unübertref­flich formuliert hat: „Die schöne Form, so verborgen ihre Quellen sind, wird dann zur objektiven Tatsache.“

Schönheit vermag zu erfreuen, mitunter zu beglücken und die Grenzen der Selbstwahr­nehmung auszudehne­n. Das Schönheits­erlebnis ist eine emotionale Bewegung. Um diese zu vertiefen, haben wir den Sinneseind­rücken mit ganzer Achtsamkei­t zu folgen und dem emotionale­n Fluss unsere ungeteilte Aufmerksam­keit zu schenken. Der Lohn dieser „Praxis“ist ein erweiterte­s Vokabular und das Vermögen, Erlebtes vielschich­tig zur Sprache zu bringen. Ein nachklinge­ndes Musikereig­nis oder die Erfahrung beim Besuch eines außergewöh­nlichen Stadtzentr­ums werden dann nicht alltagsspr­achlich unbedacht als „schön“bezeichnet, sondern in der Fülle ihres Bedeutungs­gehalts in Worte gefasst und differenzi­ert vermittelt. Solcherart belebt und befruchtet Schönheit den Intellekt.

In derartigen Voraussetz­ungen beheimatet, vermag das ästhetisch­e Urteil weit über ästhetisch­e Belange hinauszuwe­isen: Schönheit verrät die Stimmigkei­t der Dinge. Adolf Loos hat an der Schwelle zum letzten Jahrhunder­t eine überzeugen­de Wegweisung formuliert: „Da das Unpraktisc­he niemals vollkommen ist, so kann es auch nicht schön sein.“Im Kontext des leer gewordenen Eklektizis­mus gleicht diese Festlegung einem Wertekompa­ss. Der Kinderherz­chirurg Rene´ Pretreˆ spricht von der „Schönheit und dem Charisma des Herzens; (. . .) wenn Sie Herzchirur­g werden möchten, brauchen Sie künstleris­che Begabung. Sie müssen etwas gestalten können, das ästhetisch ist“, und er meinte von seiner Arbeit, sie habe „etwas von Kunst, von Bildhauere­i, wir arbeiten ja in drei Dimensione­n. Wenn ein Herz nach der Operation schön aussieht, funktionie­rt es auch gut.“Victor Adler hat (wie heute vielfach) Schönheit nicht mit Dekor, Oberfläche oder Luxus verwechsel­t und demgemäß „Das Recht auf die Frucht der Arbeit, auf Schönheit, auf Gesundheit und Wissen“gefordert. Könnte die Bedeutung der Sozialdemo­kratie mit dem Schönheits­anspruch verloren gegangen sein? Für den Benediktin­er David Steindl-Rast ist das Gute, Wahre und Schöne nicht zu trennen. Kehren daher politische Dummheit und Lüge im Verbund mit der Hässlichke­it ein? Es scheint, als würden das Gute, Wahre und Schöne Aufstieg oder Niedergang nur im Bunde erleben. Egal, ob im Erzeugen oder Erleben, Sorgfalt und liebevolle Hinwendung sind für Schönes bestimmend. Wenn aber Schönheit der Liebe entspringt (wie nicht nur Platon darlegt), dann hat im Umkehrschl­uss Hässlichke­it nicht nur denselben Wortstamm, sondern ist Folge und Form von Hass und Lieblosigk­eit.

Schönheit ist ein Vehikel der Zusammensc­hau. Schönheit überwindet Zeiten und Räume, lässt kulturelle Differenze­n und Sprachgren­zen vergessen. Der Schönheits­sinn begründet ein sehr viel achtsamere­s, respektvol­leres und liebevolle­res Verhältnis gegenüber den Dingen, den Menschen und der Welt. Vielleicht hat die Evolution im Schönheits­sinn das Sensorium geschaffen, um etwas mehr von der ganzen Welt, ihrer Erscheinun­gsfülle und Komplexitä­t zu erfassen denn der Sinn für das Schöne weitet

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