Gnaiger: Her mit der Schönheit!
Hat Schönheit eine Lobby? Wessen Anliegen sollte Schönheit sein? Wer ist ihr verpflichtet? Wer ist es, der ihr seine Stimme leiht?
– einem von entfernten Themen und Problemen nicht restlos besetzten und beschwerten, somit einem der Konzentration fähigen Geist;
– einer von Vorurteilen freien Haltung, damit auch einem guten Verhältnis zwischen dem gesicherten Wissen und einer überraschend neuen Antwort;
– ausreichend Zeit, der Geduld und der Bereitschaft, etwas liegen zu lassen – um ein Thema erst nach Tagen, mitunter Wochen wieder aufzugreifen –, denn damit bekommt das Speicherbewusstsein den ihm gebührenden Raum und wachsen die Erfahrung und das Vertrauen, dass einem „die Lösung“mitunter von selbst entgegentritt.
Doch ist all das noch nicht genug, denn ohne Übung, Erfahrung und Wissen werden weder die Intuition noch die Formintelligenz genährt und ertüchtigt: Ja, es gibt den schnellen Wurf und ein eruptives Erzeugen. Allerdings ist die ausdauernde Übung den mühelos und leicht hingeworfenen Skizzen Rembrandts, der japanischen Kalligrafie oder Picassos so schnellen wie genialen Pinselstrichen lange vorausgegangen. Unerschütterliches Urteil und Meisterschaft entspringen einem vielfach wiederholten Tun, einer substanziellen Ausrichtung und redlichen Absicht, der Vertrautheit mit dem Material (ob Holz, Sprache oder Nahrungsmittel), dem Wissen um dessen Charakter und dem intimen Verhältnis zum Werkzeug (ob Hobel, Küchenmesser oder Musikinstrument). Ebenso unabdingbar sind Kenntnis über Wandlungsprozesse durch Alterung und Gebrauch, das Wissen um die Möglichkeiten und Grenzen der Herstellungsprozesse und bei Gegenständen der Handhabe das persönliche und konkrete Verhältnis zu deren Anwendung und Funktion.
Gestaltungsarbeit ist auch die Arbeit an den eigenen Motiven, Zielen, an der eigenen Philosophie, Moral und dem persönlichen Weltverständnis. Schönheit erwächst der Nähe und Verbindung mit den Dingen, sie „gehört“den Genießern. Dort, wo unsere Interessen liegen, der Focus unserer Aufmerksamkeit und Begeisterung, dort liegt das Schöne am nächsten.
Schönheitserfahrung darf nicht zu romantisierten Rückschlüssen bezüglich des Entstehens schöner Dinge verführen. Ist die erlebte Schönheit auch ein Ausfluss des Gefühls, so entspringen schöne Dinge selten allein dem Gefühl, erst recht nicht dessen Überschwang. Zur Herstellung des Schönen gehört das schwebende, schweifende, assoziierende und empfangende Denken und strukturierte, analytische Gedanken. Intuition hilft dem Denken auf die Sprünge. Klar gefasste Gedanken und Fragestellungen nähren die Eingebung. Am Schluss gewinnt das gelungene, das „schöne“Ergebnis Leichtigkeit und lässt die Aspekte, Schritte und die Mühen des Weges vergessen.
Schönheit ist nicht objektiv, darin liegt
ihre Stärke. Wir vermögen den Dingen und Ereignissen nicht anders als über unsere individuellen Sinne zu begegnen. Egal, ob eine Stadt, ein Einkaufszentrum, eine Wanderung, ein Buch oder ein Musikstück, noch kaum je haben zwei Menschen ein und dieselbe Sache in derselben Weise erlebt. Schönheit ist subjektiv, weil wir sie ausschließlich als Subjekte wahrnehmen.
Wie beliebig unser Bewerten, wie konditioniert und fremdbestimmt oder ungetrübt und eigenständig hängt vom Grad unserer Bewusstheit und Bildung ab.
Auch in ästhetischen Fragen befindet Bildung über den Horizont unserer Wahrnehmung und das Niveau unserer Urteilsfähigkeit. Die echte ästhetische Bildung pflanzt nicht Überzeugungen und fremde Werte ein, sondern stellt Urteile in einen lebendigen Wechsel von Fühlen und Denken. Diese Bildung befreit unser Gesichtsfeld von eintrübenden, allzu persönlichen Befindlichkeiten, von verletzter oder geschmeichelter Eitelkeit, von Scham, Wut, von Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen und dem allzeit verhängnisvollen Selbstwertmangel. Der Blick für das Schöne ist ein freigeräumter Blick.
Ästhetische Erziehung ist die Einübung in den vorurteilslosen zweiten Blick Und sie ihm das Tasten, das Hören, Schmecken und Riechen gleichberechtigt zuzugesellen. Gleich einem Gewissen, das eigenständig und den Verhältnissen gemäß über richtig und falsch befindet, hat jedes Individuum das Schönheitsurteil in die eigene Verantwortung zurückzugewinnen. Ästhetische Bildung besteht auch in der größeren Zeitspanne, die wir den Eindrücken gönnen, sich in uns auszubreiten und zu verankern. – Welch fatale Differenz liegt für gewöhnlich doch zwischen der Spanne und Tiefe, in der ein Werk entsteht, und der Sorgfalt, die wir seiner Aufnahme widmen.
In geschenkter Zeit und einem freien Raum liegt der Lehrplan einer Schule des Empfindens und der Schönheit. Solcherart ist das Klima beschaffen, in dem das Schöne sich uns mitzuteilen in der Lage ist. Und auf dieser Grundlage „vermag das Gefühl mit Bestimmtheit zu bejahen oder zu verneinen“, wie der Architekt Bruno Taut das unübertrefflich formuliert hat: „Die schöne Form, so verborgen ihre Quellen sind, wird dann zur objektiven Tatsache.“
Schönheit vermag zu erfreuen, mitunter zu beglücken und die Grenzen der Selbstwahrnehmung auszudehnen. Das Schönheitserlebnis ist eine emotionale Bewegung. Um diese zu vertiefen, haben wir den Sinneseindrücken mit ganzer Achtsamkeit zu folgen und dem emotionalen Fluss unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Der Lohn dieser „Praxis“ist ein erweitertes Vokabular und das Vermögen, Erlebtes vielschichtig zur Sprache zu bringen. Ein nachklingendes Musikereignis oder die Erfahrung beim Besuch eines außergewöhnlichen Stadtzentrums werden dann nicht alltagssprachlich unbedacht als „schön“bezeichnet, sondern in der Fülle ihres Bedeutungsgehalts in Worte gefasst und differenziert vermittelt. Solcherart belebt und befruchtet Schönheit den Intellekt.
In derartigen Voraussetzungen beheimatet, vermag das ästhetische Urteil weit über ästhetische Belange hinauszuweisen: Schönheit verrät die Stimmigkeit der Dinge. Adolf Loos hat an der Schwelle zum letzten Jahrhundert eine überzeugende Wegweisung formuliert: „Da das Unpraktische niemals vollkommen ist, so kann es auch nicht schön sein.“Im Kontext des leer gewordenen Eklektizismus gleicht diese Festlegung einem Wertekompass. Der Kinderherzchirurg Rene´ Pretreˆ spricht von der „Schönheit und dem Charisma des Herzens; (. . .) wenn Sie Herzchirurg werden möchten, brauchen Sie künstlerische Begabung. Sie müssen etwas gestalten können, das ästhetisch ist“, und er meinte von seiner Arbeit, sie habe „etwas von Kunst, von Bildhauerei, wir arbeiten ja in drei Dimensionen. Wenn ein Herz nach der Operation schön aussieht, funktioniert es auch gut.“Victor Adler hat (wie heute vielfach) Schönheit nicht mit Dekor, Oberfläche oder Luxus verwechselt und demgemäß „Das Recht auf die Frucht der Arbeit, auf Schönheit, auf Gesundheit und Wissen“gefordert. Könnte die Bedeutung der Sozialdemokratie mit dem Schönheitsanspruch verloren gegangen sein? Für den Benediktiner David Steindl-Rast ist das Gute, Wahre und Schöne nicht zu trennen. Kehren daher politische Dummheit und Lüge im Verbund mit der Hässlichkeit ein? Es scheint, als würden das Gute, Wahre und Schöne Aufstieg oder Niedergang nur im Bunde erleben. Egal, ob im Erzeugen oder Erleben, Sorgfalt und liebevolle Hinwendung sind für Schönes bestimmend. Wenn aber Schönheit der Liebe entspringt (wie nicht nur Platon darlegt), dann hat im Umkehrschluss Hässlichkeit nicht nur denselben Wortstamm, sondern ist Folge und Form von Hass und Lieblosigkeit.
Schönheit ist ein Vehikel der Zusammenschau. Schönheit überwindet Zeiten und Räume, lässt kulturelle Differenzen und Sprachgrenzen vergessen. Der Schönheitssinn begründet ein sehr viel achtsameres, respektvolleres und liebevolleres Verhältnis gegenüber den Dingen, den Menschen und der Welt. Vielleicht hat die Evolution im Schönheitssinn das Sensorium geschaffen, um etwas mehr von der ganzen Welt, ihrer Erscheinungsfülle und Komplexität zu erfassen denn der Sinn für das Schöne weitet