Almas wacklige Welt
Familienfeier und Fahrt nach Kasachstan: Valerie Fritsch beschreibt in ihrem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“die Reise von Alma mit ihrem Sohn Emil in die fast menschenleere Weite des Ostens.
Valerie Fritsch braucht sich um ihr Image nicht groß zu sorgen, denn sie hat schon eines. Sprachliche Opulenz und ein Hang zum Morbiden zeichnen, nicht unbedingt altersgerecht, ihr Schreiben aus. Dabei kam das flächendeckende Weltuntergangsszenario, entworfen in ihrem erstem und überaus erfolgreichen Suhrkamp-Buch „Winters Garten“(2015), nicht von ungefähr. Weitgehend unbemerkt ist bis heute der eigentliche Debütroman von Fritsch, das 2011 im Leykam-Verlag erschienene Buch „Die VerkörperungEN“geblieben. Auch schon dort zeigte sich die Autorin von jener Seite, die man an ihr kennt: als eine Expertin für eine Ästhetik des Zerfalls.
Die Stadt Paris erscheint in diesem Buch wie in einem Fiebertraum. Bevölkert von Körpern, die mit Krankheit geschlagen sind. Der Schreibenden kommen diese nirgends „körperlicher“vor als in ihrem Tod. In „Winters Garten“weitete die Autorin die Apokalypse dann in einen geografischen Großraum, dessen Reiz auch darin besteht, dass er europäische und afrikanische Elemente in höchst origineller Weise auf sich vereint.
Außergewöhnlich ist die Bildersprache dieses Buches. Eine eigenständige Mixtur von Welten, in der die Idylle eines behüteten Kindheitsgartens mitten in Europa von harter Archaik durchbrochen wird. Die Großmutter, der das Herz der Schreibenden gehört, verwahrt im Keller ihres Hauses die abgestorbenen Embryonen ihrer Fehlgeburten im Einweckglas. So kommen in „Winters Garten“die Erste und die Dritte Welt zusammen, was auch den Reisen der Autorin zu verdanken ist. Schon als Teenager hat es sie in entfernte Länder verschlagen, teils in Voodoo-Gegenden, oft alleine. Wie aber macht man nach einem solch fulminanten literarischen Einstieg weiter? Mit forciertem Pathos oder Zurückhaltung? Fritsch hat sich für Letzteres entschieden. Fünf Jahre hat sie sich Zeit genommen. Herausgekommen ist ein Roman, der in der Lage ist, das gängige Autorinnenbild zu korrigieren.
„Herzklappen von Johnson & Johnson“beginnt dort, wo „Winters Garten“endete: mit einem Kind, das hier nun aber nicht mitten im Weltuntergang, aber immerhin noch in einem kalten und dunklen Winter zur Welt kommt. Die Mutter Alma erholt sich nur schwer von der Geburt: „Ein inneres Zittern, eine grundlegende Erschütterung kroch ihr in den leeren Leib.“Der Bub heißt Emil, und es stimmt etwas mit ihm nicht. Er fühlt keinen Schmerz, was auf eine Nervenstörung zurückzuführen ist. Die Eltern brauchen einige Zeit, um Emils seltsames Verhalten, das vor keiner Selbstverlet
Valerie Fritsch
Herzklappen von Johnson & Johnson zung zurückschreckt, richtig einzuordnen. Emil benötigt ständige Aufsicht: Jemand muss ihm sagen, dass die Suppe brennheiß ist und er sich nicht zum Gaudium der Umstehenden Gegenstände in die Hand bohren soll. Am Abend vor dem Schlafengehen wird sein Körper von Alma genauestens auf äußere Wunden durchsucht. Dabei lebt Alma in ständiger Angst, dass er eine innere Verletzung haben könnte, die sie nicht sieht.
Alma und Friedrich sind einander in einer Art von „Baumkronenschüchternheit“zugefallen. Ohne Widerstand, aber letztlich doch wie jene Bäume, die ihr Wachstum einstellen, sobald bei Wind ihre Wipfel und oberen Äste zusammenstoßen. Von großer Vorsicht im gegenseitigen Umgang getragen ist auch Almas Familienverband. Von ihrem Vater ist kaum die Rede, und die Mutter machte auf sie früher als Schlafwandlerin den größten Eindruck. Ihr Zuhause empfand Alma oft als kulissenhaft: „Es war keine Scheinwelt, aber brüchig zusammengezimmert, wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt.“
„Ästhetik des Zerfalls“
Valerie Fritsch beschreibt feinste Schattierungen dieser irgendwo unsicher gewordenen Welt, in der es scheint, als würden alle letztlich nur Theater spielen. Bei einer Familienfeier, die mit Schwarzwälderkirsch, Apfelsaft und Bier stets nach dem gleichen Ritual abläuft, beobachtet Alma den Großvater, der den ihm zugedachten Ehrenplatz einnimmt und dort doch wie in einem „Weltraumkammerspiel“in eine nahe Ferne verschwindet. Der Großvater ist ein eigenartiger und sprachloser Mann. Vor einiger Zeit wurden ihm Herzklappen von Johnson & Johnson eingesetzt. Auch das Leben seiner Frau, Almas Großmutter, die wenige Tage nach ihm stirbt, ist von einem Schmerz grundiert, der keinen Weg zur Mitteilung findet.
Der schmerzlose Emil ebnet einen Weg zu dieser Generation. Alma will glauben, dass das Kind aufgrund der zahlreichen Schrauben, Nägel und Platten, das es wegen der ständigen Brüche im Körper trägt, eine besondere Beziehung zum prothesenhaften
Urenkel gemeinsam mit seiner Mutter bei ihr ist. Auch Geschichten aus dem Krieg packt sie bei solchen Gelegenheiten aus. Der Großvater war Kriegsgefangener im hintersten Russland. Mehr braucht Alma nicht, sie bricht zu einer Reise auf.
Gemeinsam mit Emil und Friedrich, der einen Auftrag zu einer Fotoreportage über alte, verfallene Industrieanlagen im Osten bekommen hat, macht Alma sich nach Kasachstan auf, zu dritt im Auto über mehrere Tausend Kilometer. Der Verlauf ist genau geplant; ihm liegt eine reale Reise der Autorin zugrunde. In der Ukraine erfährt Alma, dass, wer in diesem Land geradeaus fährt, besoffen sein muss. Ansonsten lassen die zahlreichen Schlaglöcher zur Schonung der Stoßdämpfer nur einen schlingernden Kurs zu.
Immer tiefer geht es in den Osten, die Wahrnehmung reduziert sich auf sich selbst. „Die Augen wuchsen mit den Blicken“, schreibt Fritsch, in den unendlichen Weiten der Landschaft kommt dann aber „kaum noch ein Blick an“. Am Abend zeichnet Alma die Szenen des Tages, malt eine Ebene mit ein paar wenigen Strichen und meist nur noch einer ganz einfachen Linie für den Horizont. Während Friedrich die Dekadenz der verfallenen Industriebauten in einer Fotoästhetik festhält, die in jedes Hochglanzjournal passt, nähert sich die kleine Gruppe langsam dem Ziel der Reise. Keine Touristen sind hier unterwegs, sondern eine Frau, die ihre kleine Familie auf eine große Erkundungsreise der eigenen Vergangenheit mitnimmt.
Doch das literarische Roadmovie endet im Nichts. In der kasachischen Steppe findet sich keine Spur des Lagers, in dem einst der Großvater steckte. Nur pure Landschaft ist hier zu sehen, von der es scheint, als hätte sie noch kein Mensch betreten.
Valerie Fritsch ist mit ihrem neuen Buch nahe an den existenziellen Themen ihrer vorangegangenen Bücher dran, hat aber ihre Stilistik radikal heruntergefahren. Nur ab und an findet sich im neuen Buch noch ein Bild, das ganz an die alte Autorin erinnert. Alma packt den Schädel eines toten Tieres ins Auto. Gegen Ende macht er sich selbstständig: Der Pferdekopf blickte aus