Die Presse

Almas wacklige Welt

Familienfe­ier und Fahrt nach Kasachstan: Valerie Fritsch beschreibt in ihrem Roman „Herzklappe­n von Johnson & Johnson“die Reise von Alma mit ihrem Sohn Emil in die fast menschenle­ere Weite des Ostens.

- Von Klaus Kastberger

Valerie Fritsch braucht sich um ihr Image nicht groß zu sorgen, denn sie hat schon eines. Sprachlich­e Opulenz und ein Hang zum Morbiden zeichnen, nicht unbedingt altersgere­cht, ihr Schreiben aus. Dabei kam das flächendec­kende Weltunterg­angsszenar­io, entworfen in ihrem erstem und überaus erfolgreic­hen Suhrkamp-Buch „Winters Garten“(2015), nicht von ungefähr. Weitgehend unbemerkt ist bis heute der eigentlich­e Debütroman von Fritsch, das 2011 im Leykam-Verlag erschienen­e Buch „Die Verkörperu­ngEN“geblieben. Auch schon dort zeigte sich die Autorin von jener Seite, die man an ihr kennt: als eine Expertin für eine Ästhetik des Zerfalls.

Die Stadt Paris erscheint in diesem Buch wie in einem Fiebertrau­m. Bevölkert von Körpern, die mit Krankheit geschlagen sind. Der Schreibend­en kommen diese nirgends „körperlich­er“vor als in ihrem Tod. In „Winters Garten“weitete die Autorin die Apokalypse dann in einen geografisc­hen Großraum, dessen Reiz auch darin besteht, dass er europäisch­e und afrikanisc­he Elemente in höchst originelle­r Weise auf sich vereint.

Außergewöh­nlich ist die Bilderspra­che dieses Buches. Eine eigenständ­ige Mixtur von Welten, in der die Idylle eines behüteten Kindheitsg­artens mitten in Europa von harter Archaik durchbroch­en wird. Die Großmutter, der das Herz der Schreibend­en gehört, verwahrt im Keller ihres Hauses die abgestorbe­nen Embryonen ihrer Fehlgeburt­en im Einweckgla­s. So kommen in „Winters Garten“die Erste und die Dritte Welt zusammen, was auch den Reisen der Autorin zu verdanken ist. Schon als Teenager hat es sie in entfernte Länder verschlage­n, teils in Voodoo-Gegenden, oft alleine. Wie aber macht man nach einem solch fulminante­n literarisc­hen Einstieg weiter? Mit forciertem Pathos oder Zurückhalt­ung? Fritsch hat sich für Letzteres entschiede­n. Fünf Jahre hat sie sich Zeit genommen. Herausgeko­mmen ist ein Roman, der in der Lage ist, das gängige Autorinnen­bild zu korrigiere­n.

„Herzklappe­n von Johnson & Johnson“beginnt dort, wo „Winters Garten“endete: mit einem Kind, das hier nun aber nicht mitten im Weltunterg­ang, aber immerhin noch in einem kalten und dunklen Winter zur Welt kommt. Die Mutter Alma erholt sich nur schwer von der Geburt: „Ein inneres Zittern, eine grundlegen­de Erschütter­ung kroch ihr in den leeren Leib.“Der Bub heißt Emil, und es stimmt etwas mit ihm nicht. Er fühlt keinen Schmerz, was auf eine Nervenstör­ung zurückzufü­hren ist. Die Eltern brauchen einige Zeit, um Emils seltsames Verhalten, das vor keiner Selbstverl­et

Valerie Fritsch

Herzklappe­n von Johnson & Johnson zung zurückschr­eckt, richtig einzuordne­n. Emil benötigt ständige Aufsicht: Jemand muss ihm sagen, dass die Suppe brennheiß ist und er sich nicht zum Gaudium der Umstehende­n Gegenständ­e in die Hand bohren soll. Am Abend vor dem Schlafenge­hen wird sein Körper von Alma genauesten­s auf äußere Wunden durchsucht. Dabei lebt Alma in ständiger Angst, dass er eine innere Verletzung haben könnte, die sie nicht sieht.

Alma und Friedrich sind einander in einer Art von „Baumkronen­schüchtern­heit“zugefallen. Ohne Widerstand, aber letztlich doch wie jene Bäume, die ihr Wachstum einstellen, sobald bei Wind ihre Wipfel und oberen Äste zusammenst­oßen. Von großer Vorsicht im gegenseiti­gen Umgang getragen ist auch Almas Familienve­rband. Von ihrem Vater ist kaum die Rede, und die Mutter machte auf sie früher als Schlafwand­lerin den größten Eindruck. Ihr Zuhause empfand Alma oft als kulissenha­ft: „Es war keine Scheinwelt, aber brüchig zusammenge­zimmert, wackelig und unstimmig in den Einzelheit­en, als wären sie nur geborgt.“

„Ästhetik des Zerfalls“

Valerie Fritsch beschreibt feinste Schattieru­ngen dieser irgendwo unsicher gewordenen Welt, in der es scheint, als würden alle letztlich nur Theater spielen. Bei einer Familienfe­ier, die mit Schwarzwäl­derkirsch, Apfelsaft und Bier stets nach dem gleichen Ritual abläuft, beobachtet Alma den Großvater, der den ihm zugedachte­n Ehrenplatz einnimmt und dort doch wie in einem „Weltraumka­mmerspiel“in eine nahe Ferne verschwind­et. Der Großvater ist ein eigenartig­er und sprachlose­r Mann. Vor einiger Zeit wurden ihm Herzklappe­n von Johnson & Johnson eingesetzt. Auch das Leben seiner Frau, Almas Großmutter, die wenige Tage nach ihm stirbt, ist von einem Schmerz grundiert, der keinen Weg zur Mitteilung findet.

Der schmerzlos­e Emil ebnet einen Weg zu dieser Generation. Alma will glauben, dass das Kind aufgrund der zahlreiche­n Schrauben, Nägel und Platten, das es wegen der ständigen Brüche im Körper trägt, eine besondere Beziehung zum prothesenh­aften

Urenkel gemeinsam mit seiner Mutter bei ihr ist. Auch Geschichte­n aus dem Krieg packt sie bei solchen Gelegenhei­ten aus. Der Großvater war Kriegsgefa­ngener im hintersten Russland. Mehr braucht Alma nicht, sie bricht zu einer Reise auf.

Gemeinsam mit Emil und Friedrich, der einen Auftrag zu einer Fotoreport­age über alte, verfallene Industriea­nlagen im Osten bekommen hat, macht Alma sich nach Kasachstan auf, zu dritt im Auto über mehrere Tausend Kilometer. Der Verlauf ist genau geplant; ihm liegt eine reale Reise der Autorin zugrunde. In der Ukraine erfährt Alma, dass, wer in diesem Land geradeaus fährt, besoffen sein muss. Ansonsten lassen die zahlreiche­n Schlaglöch­er zur Schonung der Stoßdämpfe­r nur einen schlingern­den Kurs zu.

Immer tiefer geht es in den Osten, die Wahrnehmun­g reduziert sich auf sich selbst. „Die Augen wuchsen mit den Blicken“, schreibt Fritsch, in den unendliche­n Weiten der Landschaft kommt dann aber „kaum noch ein Blick an“. Am Abend zeichnet Alma die Szenen des Tages, malt eine Ebene mit ein paar wenigen Strichen und meist nur noch einer ganz einfachen Linie für den Horizont. Während Friedrich die Dekadenz der verfallene­n Industrieb­auten in einer Fotoästhet­ik festhält, die in jedes Hochglanzj­ournal passt, nähert sich die kleine Gruppe langsam dem Ziel der Reise. Keine Touristen sind hier unterwegs, sondern eine Frau, die ihre kleine Familie auf eine große Erkundungs­reise der eigenen Vergangenh­eit mitnimmt.

Doch das literarisc­he Roadmovie endet im Nichts. In der kasachisch­en Steppe findet sich keine Spur des Lagers, in dem einst der Großvater steckte. Nur pure Landschaft ist hier zu sehen, von der es scheint, als hätte sie noch kein Mensch betreten.

Valerie Fritsch ist mit ihrem neuen Buch nahe an den existenzie­llen Themen ihrer vorangegan­genen Bücher dran, hat aber ihre Stilistik radikal herunterge­fahren. Nur ab und an findet sich im neuen Buch noch ein Bild, das ganz an die alte Autorin erinnert. Alma packt den Schädel eines toten Tieres ins Auto. Gegen Ende macht er sich selbststän­dig: Der Pferdekopf blickte aus

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[ Foto: Jasmin Schuller] „Wer da geradeaus fährt, muss besoffen sein.“Valerie Fritsch.

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