Ankara fürchtet sich vor Blumen, Zitronen und Pink Floyd
Türkei. In einem kafkaesk anmutenden Prozess wirft die Anklage einem Kunstmäzen umstürzlerische Aktivitäten vor.
Wenn der Kunstmäzen Osman Kavala an diesem Dienstag wieder vor dem Richter steht, wird er 840 Tage im Gefängnis verbracht haben – weil die Regierung die Zivilgesellschaft in die Knie zwingen will. In dem Verfahren im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri bei Istanbul wirft die Staatsanwaltschaft dem Hauptangeklagten Kavala und 15 weiteren Beschuldigten vor, die GeziProteste des Jahres 2013 angezettelt zu haben, um die Regierung des heutigen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan,˘ zu stürzen. Konkrete Beweise dafür hat die Anklage nicht vorlegen können, aber schlagkräftige Beweise seien für die türkische Justiz in politischen Prozessen wie diesem ohnehin Nebensache, sagen Kritiker der Regierung: „Osman Kavala ist eine politische Geisel von Präsident Erdogan“,˘ schrieb die Journalistin Mehves¸ Evin.
Der 63-jährige Kavala, Spross einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, war als
Gründer einer Kulturstiftung über Jahre ein enger Partner europäischer Institutionen am Bosporus. Der Millionär kümmerte sich besonders um Minderheiten wie Griechen, Juden und Armenier – auf diese Art wolle er etwas gegen die starke Polarisierung in der türkischen Gesellschaft tun, sagte er einmal. Doch die türkischen Behörden legen ihm dieses Engagement als staatsfeindliche Aktivität aus.
Der übliche Verdächtige: George Soros
Erdogans˘ Regierung sieht die Gezi-Proteste, die sich an Plänen zur Bebauung des kleinen Gezi-Parks in Istanbul entzündet haben, schon länger als Umsturzversuch. Die GeziDemonstrationen seien das Werk in- und ausländischer Verschwörer gewesen, sagte Erdogan˘ vor zwei Jahren. Außerhalb der Türkei habe der Finanzier George Soros die Hauptrolle gespielt, in der Türkei selbst seien die Fäden des Aufstandes bei Kavala zusammengelaufen.
Lebenslange Haft ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung fordert die Anklagevertretung deshalb für Kavala und zwei andere Angeklagte. Da es keine Beweise für den Putschvorwurf gibt, versucht die Anklage, ihre Strafforderung mit Indizien zu untermauern. Das Ergebnis ist eine kafkaeske Anklageschrift. Darin findet sich unter anderem der Hinweis, dass Gezi-Demonstranten während der Unruhen den aufgebotenen Polizisten Blumen überreicht hätten: Das sei eine klassische Taktik aus einem Handbuch für Aufstände. Die Anklage führt auch ein Konzert des früheren Pink-Floyd-Bassisten Roger Waters, bei dem Bilder von getöteten Gezi-Demonstranten gezeigt wurden, als angeblichen Beweis für die staatsfeindlichen Ziele der Gezi-Bewegung auf. Ein Polizist sagte im Prozess aus, die Gezi-Demonstranten hätten viele Zitronen bei sich gehabt – als Mittel gegen das Tränengas der Sicherheitskräfte.
Mehrfach haben Regierung und Justiz in den bisher fünf Verhandlungstagen im Fall Kavala deutlich gemacht, dass es im Prozess darum geht, die Zivilgesellschaft als potenzielle Gefahr für den Staat hinzustellen. Rechtsstaatliche Kriterien spielen deshalb keine Rolle. Die Staatsanwaltschaft hielt Kavala mehr als ein Jahr in Haft, bevor sie eine Anklageschrift vorlegte. Eine Forderung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg nach Freilassung wurde vom zuständigen Gericht ignoriert, obwohl die Türkei als Mitglied des Europarates an Entscheidungen der Straßburger Richter gebunden ist. Einer der Richter, der für die Freilassung des Angeklagten votierte, wurde von dem Fall abgezogen.
Erdogan˘ macht kein Hehl aus seiner Entschlossenheit, politische Prozesse in seinem Sinn zu lenken. Nach der Freilassung eines ehemaligen Generals, der unter dem Verdacht der Beteiligung am Putschversuch von 2016 in Haft saß, sagte der Staatschef kürzlich, er habe Ermittlungen gegen die an der Freilassung beteiligten Richter angeordnet. „Ich habe die notwendigen Anweisungen erteilt“, sagte er. Kurz darauf wurde der General erneut eingesperrt.
Der Jus-Professor Ilyas Dogan˘ gewährte auf Twitter einen Einblick in den Alltag der türkischen Justiz. Einer seiner ehemaligen Studenten, inzwischen Jurist an einem Schwurgericht, habe ihm sein Leid geklagt: Bei politischen Prozessen, in denen es um Mitgliedschaft in einer staatsfeindlichen Organisation gehe, seien Freisprüche unerwünscht.
Osman Kavala ist eine politische Geisel von Präsident Recep Tayyip Erdo˘gan.
Mehve¸s Evin, Journalistin