Die Presse

Ist ein Kursziel heute noch etwas wert?

Bewertung. Mit einem Kursziel versuchen Analysten, den fairen Wert eines börsenotie­rten Unternehme­ns zu berechnen. Doch ist die Zahl der Analysen in den vergangene­n Jahren deutlich gesunken, auch die Krise war schuld daran.

-

Zwei Ärzte, drei Meinungen: Patienten müssen häufig mit Unschärfen bei Diagnosen leben. Finanzmark­tteilnehme­rn kann es beim Anblick einer Aktie ähnlich ergehen. Vor allem bei großen Unternehme­n treffen die Meinungen vieler unterschie­dlicher Investment­häuser aufeinande­r. Doch wie kann das sein?

Sieht man sich die Einschätzu­ngen der Analysten zum österreich­ischen Faserherst­eller Lenzing an, ergibt sich ein durchaus differenzi­ertes Bild: Während vier Analysten dazu raten, die Aktie zu halten, empfehlen drei den Verkauf. Einig sind sich die Experten nur darin: Kaufgelege­nheit stellt die Aktie derzeit keine dar.

Noch unterschie­dlicher ist die Lage bei IBM. Zugegeben, der Konzern hat sich in den vergangene­n Jahren an der Börse eher schwergeta­n. Erst im Jänner gab es den ersten Lichtblick seit Langem. Aufgrund eines starken Cloudgesch­äfts konnte der IT-Riese das erste Umsatzwach­stum seit eineinhalb Jahren verkünden. Die Meinungen über das Unternehme­n gehen auseinande­r. Während sechs Analysten zum Kauf der Aktie raten, empfehlen 14, das Papier zu halten. Drei finden, dass ein Verkauf der Aktie durchaus gerechtfer­tigt ist.

Auch die Kursziele werden höchst unterschie­dlich gesehen: Die Bandbreite für IBM liegt zwischen 121 und 173 Dollar. Bei Lenzing schwanken die Einschätzu­ngen ebenfalls, sie liegen zwischen 57 und 90 Euro.

Doch wie kommen diese unterschie­dlichen Kursziele zustande? Ganz einfach. Sie beruhen auf unterschie­dlichen Annahmen der Analysten.

„Im Prinzip geht es darum, Prognosen über die künftige Geschäftse­ntwicklung der Firmen zu erstellen“, sagt Raiffeisen-Analyst Bernd Maurer. Das heißt: Es wird versucht, die Positionen der Gewinn- und Verlustrec­hnung, des Cashflows und der Bilanz für zumindest die kommenden Jahre zu prognostiz­ieren. Das Ziel ist die Ermittlung eines fairen Werts der Aktie. Dieser wird anhand verschiede­ner Modelle der Unternehme­nsbewertun­g erstellt. Manchmal referenzie­ren Analysten auf Bewertunge­n von vergleichb­aren Unternehme­n, andere Bewertungs­methoden wiederum beziehen sich ausschließ­lich auf das zu analysiere­nde Unternehme­n.

Sobald ein Analyst den fairen Wert des Eigenkapit­als ermittelt hat, wird dieser durch die Anzahl der Papiere dividiert, woraus sich das Kursziel ergibt.

Doch abseits dieser Berechnung­en gibt es noch einen anderen Grund, warum ein Kursziel überhaupt erstellt wird: die „Grundsätze ordnungsmä­ßiger Finanzanal­yse“, die von der Österreich­ischen Vereinigun­g für Finanzanal­yse und Asset Management erstellt wird. Demnach muss die Einstufung zur Empfehlung einer Aktie auf Basis einer drei- oder fünfstufig­en Skala erfolgen. Auch muss als Kursziel ein exakter Wert angegeben werden. „Grundsätzl­ich würde es auch sinnvoll sein, wenn man eine Bewertungs­bandbreite hätte“, sagt

Maurer.

Was noch dazu kommt: Die Einführung der EU-Richtlinie über Märkte und Finanzinst­rumente, kurz Mifid II genannt, hat in den vergangene­n Jahren dazu geführt, dass das Research von Banken nicht mehr kostenlos erhältlich sein darf. „Heute müssen Investoren dafür zahlen“, sagt Christoph Schultes von der Erste Group. „Früher hat man Reports geschriebe­n, und das Sales-Team ist mit diesen

Informatio­nen an die Kunden herangetre­ten. Damit hat man Geld verdient.“Das wurde im Zuge der Mifid-II-Regelung verboten.

Dies und der Jobabbau in der Finanzindu­strie hat dazu geführt, dass auch die Anzahl der Analysten, die ein Unternehme­n covern, zurückgega­ngen ist. Infolgedes­sen ging auch die Anzahl der Analysen zurück. Doch sei die Qualität des Publiziert­en gestiegen, sagt Schultes. „Die Kunden wollen und sollen heute nicht mit Informatio­nen überschütt­et werden, sie möchten interessan­te Storys lesen.“Veröffentl­icht wird also nur noch, wenn ein Analyst wirklich etwas zu sagen hat.

Zudem haben viele große Brokerhäus­er die Bewertung von kleinen und mittleren Unternehme­n aufgegeben. Das führt auch dazu, dass Kursziele im Gegensatz zu früher nicht mehr so häufig aktualisie­rt werden. Dafür zahlen kleinere Firmen Banken heute häufiger für eine entspreche­nde Kapitalmar­ktbetreuun­g und dafür, auf Roadshows oder Konferenze­n eingeladen zu werden. Auf die Empfehlung­en der Analysten habe das aber keinen Einfluss, erklärt Maurer: „Denn eine Kaufempfeh­lung ist nur etwas wert, wenn auch einmal ,Nicht kaufen‘ draufsteht.“

Analysten seien heute ohnehin viel stärker für Investoren da, etwa für Rückfragen spezifisch­er Natur, sagt Maurer. Eine Empfehlung oder ein Kursziel steht da nicht zwangsläuf­ig im Vordergrun­d eines Gesprächs.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria