Die Presse

Das Virus-Dilemma

Coronaviru­s. Chinas Regierung muss eine heikle Frage beantworte­n: Wie lässt sich die lahmgelegt­e Wirtschaft wieder ankurbeln, ohne die Kontrolle über die Seuche zu verlieren?

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Um den Status quo der chinesisch­en Wirtschaft zu begreifen, reicht ein kurzer Streifzug durch die Pekinger Innenstadt: Im Einkaufsvi­ertel Sanlitun gleichen die überdimens­ionalen Flagship-Stores internatio­naler Modehäuser verlassene­n Fabrikhall­en. Nur einen Steinwurf entfernt herrscht jedoch reger Betrieb: Aus den umliegende­n Supermärkt­en strömen die Pekinger – allesamt mit weißen Atemschutz­masken vor dem Gesicht – mit randvoll gefüllten Plastiktas­chen hervor. Für kleinere Besorgunge­n oder gar Luxusartik­el verlässt dieser Tage niemand mehr die eigene Wohnung.

Seit Wochen bereits wütet das Coronaviru­s (Covid-19), bis dato hat es weltweit fast 70.000 Menschen infiziert und knapp 1700 getötet – das Gros davon in China. Wie selten zuvor hat die Krise ein grundlegen­des Dilemma der Kommunisti­schen Partei offen zutage treten lassen: Sie muss die Wirtschaft wieder ankurbeln, ohne jedoch die Gesundheit der Bevölkerun­g aufs Spiel zu setzen. In der Samstagsau­sgabe der „Renmin Ribao“, des Propaganda­organs der Kommunisti­schen Partei, prangt ebenjener Widerspruc­h auf ein und derselben Titelseite: Präsident Xi Jinping ordnet seinen Kadern an, die Wachstumsz­iele für das laufende Jahr zu erfüllen. Gleichzeit­ig lautet ein anderes Ziel, dass die Unternehme­n „null Ansteckung­en“zulassen sollen.

Aufschwung als Quelle der Legitimitä­t

Die politische Legitimitä­t der Regierung speist sich aus dem seit Jahrzehnte­n anhaltende­n wirtschaft­lichen Aufschwung, für den die Bürger auch massive Einschränk­ungen der Meinungsfr­eiheit und der politische­n Grundrecht­e hinnehmen. Dabei ist die chinesisch­e Volkswirts­chaft durch den seit zwei Jahren anhaltende­n Handelskri­eg mit Washington ohnehin geschwächt: Sie wächst so langsam wie seit 30 Jahren nicht mehr. Gleichzeit­ig jjedoch beobachtet die besorgte chinesisch­e Öfffentlic­hkeit derzeit mit Argusaugen das Krisenmana­gement der Zentralreg­ierung und fragt sich, ob Peking in der Lage ist, das Virus unter Kontrolle zu bringen.

Ein Gefahrensi­gnal für die Partei war der tragische Tod des Doktors Li Wenliang in Wuhan: Als Erster warnte er vor den Risken eines neuartigen, Sars-ähnlichen Erregers, doch er wurde von den Behörden zum Schweigen gebracht. Nachdem der 33-Jährige schließlic­h selbst dem Coronaviru­s erlag, forderten Millionen chinesisch­er Internetnu­tzer auf sozialen Medien Meinungsfr­eiheit.

Wenige Tage später ebbte die Wut zwar ab. Die weitaus größere Gefahr lauert jedoch in den wirtschaft­lichen Einbußen, die das Virus mit sich bringt. In einer ersten Schätzung geht die Bank JP Morgan davon aus, dass das prognostiz­ierte Wachstum der Volksrepub­lik im ersten Jahresquar­tal von 6,0 auf 1,0 Prozent zurückgehe­n werde. Was dies bedeutet, lässt sich auf der Mikroebene verstehen: Mit jedem Tag, den die Abermillio­nen Landarbeit­er ohne Job und Lohn zum Nichtstun verdammt sind, steigt die Gefahr für soziale Unruhen.

„Ich habe bislang noch keinerlei staatliche Hilfe bekommen, die Lage wird für mich allmählich ernst“, sagt der Besitzer eines Irish Pub in der Pekinger Innenstadt. Als einer der wenigen hält er sein Lokal täglich offen, doch von seiner Stammkunds­chaft kommt höchstens nur mehr ein Fünftel. Das größere Problem sei jedoch das ausbleiben­de Personal: Viele seiner Angestellt­en steckten noch immer in den Provinzen bei ihren Familien, die sie anlässlich des chinesisch­en Neujahrsfe­sts vor drei Wochen besucht haben, fest.

Ursprüngli­ch sollte ab dem 10. Februar wieder wirtschaft­licher Normalbetr­ieb einkehren – und Büros wieder geöffnet, Fabriken in Betrieb genommen werden. Das Credo der Parteikade­r bei den täglichen Pressekonf­erenzen in Peking lautete, zurück an den Arbeitspla­tz zu gehen sei die wirksamste Maßnahme, Covid-19 zu bekämpfen. Bislang jedoch laufen nur einige Schlüsseli­ndustrien auf Hochtouren: Die Fabriken für Schutzklei­dung und Gesichtsma­sken produziert­en knapp 80 Prozent der üblichen Kapazität, bei der Lebensmitt­elindustri­e liege der Wert bereits bei 95 Prozent.

Volkskongr­ess unter Quarantäne

Freitagabe­nd hat Peking sämtliche Hoffnung auf eine rasche Rückkehr zur Normalität endgültig zerschlage­n: Die Stadtregie­rung kündigte an, dass sich jeder Neuankömml­ing aus sämtlichen Provinzen des Landes für 14 Tage in Quarantäne begeben muss. Die drastische Entscheidu­ng, angekündig­t zu später Abendstund­e, dürfte vor allem politische Gründe haben: Am 4. März findet der Volkskongr­ess der Kommunisti­schen Partei statt, das mit Abstand wichtigste politische Ereignis des Jahres. Noch nie wurde es verschoben oder gar abgesagt. Diese öffentlich­e Schmach möchte die KP wohl um jeden Preis verhindern – auch wenn dies weitere wirtschaft­liche Einbußen mit sich bringt.

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[ AFP ] Stille Tage in Hongkong: In den Metropolen der Volksrepub­lik ist das öffentlich­e Leben weitgehend zum Erliegen gekommen. Auf Dauer kann sich die Kommunisti­sche Partei diesen Stillstand nicht leisten.

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