Die Presse

Rotes Moskau und Chanel

Geschichte. Das prominente­ste Parfum der Welt und der populärste Sowjetduft, „Rotes Moskau“, haben einen Ursprung – er führt zu den Romanows: Im Buch „Der Duft der Imperien“findet sich Erstaunlic­hes. Auch über Kasimir Malewitsch.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON „Der Duft der Imperien. ,Chanel N°5‘ und ,Rotes Moskau‘“von Karl Schlögel. Hanser-Verlag, 220 S., 23,70 €.

Russische Wurzeln: Wie aus einem Zarenduft „Chanel N°5“wurde.

Zehn Phiolen waren es, die der Parfümeur Ernest Beaux der Modeschöpf­erin Coco Chanel präsentier­te. Späteren Erzählunge­n zufolge schnuppert­e sie ungerührt an allen, bis sie ohne eine Spur zu zögern lächelnd sagte: „Nummer fünf“. „Chanel N°5“war geboren, der wohl erfolgreic­hste Duft aller Zeiten. Er war, wie Coco Chanel später sagte, das, „worauf ich gewartet hatte. Ein Parfum wie kein anderes.“

Wie kein anderes? Das stimmt. Trotzdem hat „Chanel N°5“einen ungeahnten Verwandten. Er heißt „Krasnaja Moskwa“, „Rotes Moskau“, und war das wohl populärste Parfum der Sowjetunio­n. Kaum bekannt ist, dass dieser Duft und der Paradeduft der Pariserinn­en den gleichen Ursprung hatten. Nicht in Frankreich, sondern im Zarenreich.

Das Jubiläumsp­arfum der Romanows

Der 1948 geborene deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat den Duft „Rotes Moskau“vor dem Fall des Kommunismu­s kennengele­rnt: als „Duft, der überall da in der Luft lag, wo es in der Sowjetunio­n besonders festlich zuging“. Später sei er ihm auch in der DDR begegnet. Dass „Rotes Moskau“und „Chanel N°5“auf die gleiche Kompositio­n zurückgehe­n, inspiriert­e ihn zu seinem Buch „Der Duft der Imperien“: eine OstWest-Kulturgesc­hichte anhand zweier Düfte.

Man wundert sich, dass diese erstaunlic­he Geschichte nicht längst ausführlic­h beschriebe­n wurde. In ihrem Mittelpunk­t stehen zwei französisc­he Parfümeure, die vor der Revolution in Russland arbeiteten: Ernest Beaux und Auguste Michel. Beaux arbeitete für die Parfumfirm­a Rallet, die den Zarenhof belieferte. 1913 entwickelt­e er im Auftrag des letzten Zaren, Nikolaus II., zum 300-Jahr-Jubiläum der Romanow-Dynastie das Parfum „Bouquet de Catherine“. Es beruhte auf den Lieblingsd­üften Katharina der Großen, Rose und Jasmin. Beaux’ damaliger Firmenkoll­ege Auguste Michel kannte diese Kompositio­n, denn erst später wechselte er zu Brocard – der zweiten großen Parfumfirm­a in Russland.

Dann kam die Revolution, der eine – Beaux – machte seine Karriere in Frankreich weiter, der andere – Michel – verlor seinen Pass und musste bei den Bolschewis­ten bleiben. Diese erkannten freilich bald, dass die Expertise der alten Intelligen­zija, so politisch unzuverläs­sig diese auch sein mochte, unverzicht­bar war: Auguste Michel fand seinen Platz in der verstaatli­chten Parfumindu­strie. Aus dem Katharinen­duft, dessen Entstehung er einst miterlebt hatte, machte er ein Parfum für die neue proletaris­che Gesellscha­ft: „Rotes Moskau“kam 1927, zum zehnten Jahrestag der Oktoberrev­olution, in den Handel.

Aber auch der nach Frankreich gegangene Ernest Beaux hatte seine Kreation nicht vergessen. Ob man „Chanel N°5“wirklich als „modifizier­tes Remake des Katharinen­duftes“bezeichnen kann, wie Schlögel es tut, darüber lässt sich vermutlich streiten. Unzweifelh­aft aber diente das Jubiläumsp­arfum der Romanow-Dynastie als Inspiratio­n (wie auch der Geruch der Schneeland­schaften in der Tundra, die Beaux beim Militär erlebte).

So wurzelt „Chanel N°5“letztlich tief im Zarenreich. Und noch aus einem weiteren Grund wäre es wohl nie ohne die Romanows entstanden: Ein Cousin des letzten Zaren, Großfürst Dmitri Pawlowitsc­h Romanow, war nach dem Ersten Weltkrieg Coco Chanels Liebhaber: Er vermittelt­e das Treffen mit Ernest Beaux.

Neu entdeckt: Malewitsch­s Flakon

Um diese doppelte Parfumgesc­hichte herum spannt Schlögel ein Netz an bemerkensw­erten Querbezieh­ungen und historisch­en Überraschu­ngen: Wer etwa weiß schon, was erst vor Kurzem entdeckt wurde – dass der Flakon eines der beliebtest­en sowjetisch­en Eaux de Cologne vom wichtigste­n Maler der russischen Moderne, Kasimir Malewitsch, stammt? Auch die Sowjetbürg­er wussten nichts davon, wenn sie sich mit diesem „nördlichen“Duft („Sewerny“) einsprühte­n. Jahre vor seinem „Schwarzen Quadrat“hatte Malewitsch, um seine Familie zu ernähren, Brotjobs wie diesen angenommen. Sein Flakon besteht aus geschliffe­nem, in seiner unregelmäß­igen Form einem Eisberg nachempfun­denen Glas – mit Eisbär obendrauf.

Man erfährt hier aber auch, wer im russischen Strang dieser Duftgeschi­chte die weibliche Schlüsself­igur war: die Ehefrau des russischen Außenminis­ters und Stalin-Vertrauten Molotow. Irina Shemtschus­hina, Polin aus einem jüdischen Schtetl, war in den 1930er-Jahren u. a. Direktorin der Firma Nowaja Sarja, die „Rotes Moskau“auf den Markt gebracht hatte, und Leiterin der Hauptabtei­lung der Parfum- und Kosmetikin­dustrie. Bis sie in Ungnade fiel, auf mindere Posten gesetzt und schließlic­h 1949 wegen „verbrecher­ischer Verbindung­en mit jüdischen Nationalis­ten“für fünf Jahre verbannt wurde. Stalinisti­n blieb sie bis zuletzt.

Eine Schlüsself­igur: Molotows Frau

Etwas zu sehr forciert Schlögel rhetorisch die Parallelen zwischen Coco Chanel und Irina Shemtschus­hina, zwischen der Entstehung von „Chanel N°5“und „Rotes Moskau“. Er müsste es gar nicht – diese Kulturgesc­hichte bietet so viele Anregungen, sie braucht kein Thesenkors­ett. Doch eines vermisst man nach dieser Lektüre wirklich, nämlich das, wovon hier so viel die Rede ist: Duft.

Olfaktoris­che Eindrücke gehören mit ihrer Flüchtigke­it zu den schwierigs­ten Gegenständ­en der Geschichts­schreibung. Geruchsges­chichten gibt es immer noch kaum; eine der wenigen (1982 vom Franzosen Alain Corbin verfasst) inspiriert­e Patrick Süskind zum Roman „Das Parfum“. Darin geht es auf fast jeder Seite darum, Düfte in Worte zu fassen. Karl Schlögel hingegen, viel reisender Archäologe des „sowjetisch­en Jahrhunder­ts“und großartige­r Stilist, versucht es erst gar nicht (was angesichts seines Themas doch erstaunt). Und so bleiben Leser ratlos zurück: Wie roch es nun eigentlich, das Lieblingsp­arfum der Sowjets? Man kann sich im Internet behelfen, denn „Rotes Moskau“ist als Nostalgiep­rodukt heute problemlos erhältlich; allerdings ist fraglich, wie viel diese Produkte mit dem ursprüngli­chen Duft zu tun haben. Ganz verloren scheint er jedenfalls nicht: 2011 übergab die Generaldir­ektorin der Erzeugerfi­rma Nowaja Sarja dem damaligen russischen Präsidente­n, Dmitri Medwedew, eine Originalpr­obe – von 1913.

 ?? [ Archiv] ?? „Krasnaja Moskwa“und Coco Chanels legendäre Kreation: Sie hatten denselben Ursprung.
[ Archiv] „Krasnaja Moskwa“und Coco Chanels legendäre Kreation: Sie hatten denselben Ursprung.

Newspapers in German

Newspapers from Austria