Rotes Moskau und Chanel
Geschichte. Das prominenteste Parfum der Welt und der populärste Sowjetduft, „Rotes Moskau“, haben einen Ursprung – er führt zu den Romanows: Im Buch „Der Duft der Imperien“findet sich Erstaunliches. Auch über Kasimir Malewitsch.
Russische Wurzeln: Wie aus einem Zarenduft „Chanel N°5“wurde.
Zehn Phiolen waren es, die der Parfümeur Ernest Beaux der Modeschöpferin Coco Chanel präsentierte. Späteren Erzählungen zufolge schnupperte sie ungerührt an allen, bis sie ohne eine Spur zu zögern lächelnd sagte: „Nummer fünf“. „Chanel N°5“war geboren, der wohl erfolgreichste Duft aller Zeiten. Er war, wie Coco Chanel später sagte, das, „worauf ich gewartet hatte. Ein Parfum wie kein anderes.“
Wie kein anderes? Das stimmt. Trotzdem hat „Chanel N°5“einen ungeahnten Verwandten. Er heißt „Krasnaja Moskwa“, „Rotes Moskau“, und war das wohl populärste Parfum der Sowjetunion. Kaum bekannt ist, dass dieser Duft und der Paradeduft der Pariserinnen den gleichen Ursprung hatten. Nicht in Frankreich, sondern im Zarenreich.
Das Jubiläumsparfum der Romanows
Der 1948 geborene deutsche Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat den Duft „Rotes Moskau“vor dem Fall des Kommunismus kennengelernt: als „Duft, der überall da in der Luft lag, wo es in der Sowjetunion besonders festlich zuging“. Später sei er ihm auch in der DDR begegnet. Dass „Rotes Moskau“und „Chanel N°5“auf die gleiche Komposition zurückgehen, inspirierte ihn zu seinem Buch „Der Duft der Imperien“: eine OstWest-Kulturgeschichte anhand zweier Düfte.
Man wundert sich, dass diese erstaunliche Geschichte nicht längst ausführlich beschrieben wurde. In ihrem Mittelpunkt stehen zwei französische Parfümeure, die vor der Revolution in Russland arbeiteten: Ernest Beaux und Auguste Michel. Beaux arbeitete für die Parfumfirma Rallet, die den Zarenhof belieferte. 1913 entwickelte er im Auftrag des letzten Zaren, Nikolaus II., zum 300-Jahr-Jubiläum der Romanow-Dynastie das Parfum „Bouquet de Catherine“. Es beruhte auf den Lieblingsdüften Katharina der Großen, Rose und Jasmin. Beaux’ damaliger Firmenkollege Auguste Michel kannte diese Komposition, denn erst später wechselte er zu Brocard – der zweiten großen Parfumfirma in Russland.
Dann kam die Revolution, der eine – Beaux – machte seine Karriere in Frankreich weiter, der andere – Michel – verlor seinen Pass und musste bei den Bolschewisten bleiben. Diese erkannten freilich bald, dass die Expertise der alten Intelligenzija, so politisch unzuverlässig diese auch sein mochte, unverzichtbar war: Auguste Michel fand seinen Platz in der verstaatlichten Parfumindustrie. Aus dem Katharinenduft, dessen Entstehung er einst miterlebt hatte, machte er ein Parfum für die neue proletarische Gesellschaft: „Rotes Moskau“kam 1927, zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, in den Handel.
Aber auch der nach Frankreich gegangene Ernest Beaux hatte seine Kreation nicht vergessen. Ob man „Chanel N°5“wirklich als „modifiziertes Remake des Katharinenduftes“bezeichnen kann, wie Schlögel es tut, darüber lässt sich vermutlich streiten. Unzweifelhaft aber diente das Jubiläumsparfum der Romanow-Dynastie als Inspiration (wie auch der Geruch der Schneelandschaften in der Tundra, die Beaux beim Militär erlebte).
So wurzelt „Chanel N°5“letztlich tief im Zarenreich. Und noch aus einem weiteren Grund wäre es wohl nie ohne die Romanows entstanden: Ein Cousin des letzten Zaren, Großfürst Dmitri Pawlowitsch Romanow, war nach dem Ersten Weltkrieg Coco Chanels Liebhaber: Er vermittelte das Treffen mit Ernest Beaux.
Neu entdeckt: Malewitschs Flakon
Um diese doppelte Parfumgeschichte herum spannt Schlögel ein Netz an bemerkenswerten Querbeziehungen und historischen Überraschungen: Wer etwa weiß schon, was erst vor Kurzem entdeckt wurde – dass der Flakon eines der beliebtesten sowjetischen Eaux de Cologne vom wichtigsten Maler der russischen Moderne, Kasimir Malewitsch, stammt? Auch die Sowjetbürger wussten nichts davon, wenn sie sich mit diesem „nördlichen“Duft („Sewerny“) einsprühten. Jahre vor seinem „Schwarzen Quadrat“hatte Malewitsch, um seine Familie zu ernähren, Brotjobs wie diesen angenommen. Sein Flakon besteht aus geschliffenem, in seiner unregelmäßigen Form einem Eisberg nachempfundenen Glas – mit Eisbär obendrauf.
Man erfährt hier aber auch, wer im russischen Strang dieser Duftgeschichte die weibliche Schlüsselfigur war: die Ehefrau des russischen Außenministers und Stalin-Vertrauten Molotow. Irina Shemtschushina, Polin aus einem jüdischen Schtetl, war in den 1930er-Jahren u. a. Direktorin der Firma Nowaja Sarja, die „Rotes Moskau“auf den Markt gebracht hatte, und Leiterin der Hauptabteilung der Parfum- und Kosmetikindustrie. Bis sie in Ungnade fiel, auf mindere Posten gesetzt und schließlich 1949 wegen „verbrecherischer Verbindungen mit jüdischen Nationalisten“für fünf Jahre verbannt wurde. Stalinistin blieb sie bis zuletzt.
Eine Schlüsselfigur: Molotows Frau
Etwas zu sehr forciert Schlögel rhetorisch die Parallelen zwischen Coco Chanel und Irina Shemtschushina, zwischen der Entstehung von „Chanel N°5“und „Rotes Moskau“. Er müsste es gar nicht – diese Kulturgeschichte bietet so viele Anregungen, sie braucht kein Thesenkorsett. Doch eines vermisst man nach dieser Lektüre wirklich, nämlich das, wovon hier so viel die Rede ist: Duft.
Olfaktorische Eindrücke gehören mit ihrer Flüchtigkeit zu den schwierigsten Gegenständen der Geschichtsschreibung. Geruchsgeschichten gibt es immer noch kaum; eine der wenigen (1982 vom Franzosen Alain Corbin verfasst) inspirierte Patrick Süskind zum Roman „Das Parfum“. Darin geht es auf fast jeder Seite darum, Düfte in Worte zu fassen. Karl Schlögel hingegen, viel reisender Archäologe des „sowjetischen Jahrhunderts“und großartiger Stilist, versucht es erst gar nicht (was angesichts seines Themas doch erstaunt). Und so bleiben Leser ratlos zurück: Wie roch es nun eigentlich, das Lieblingsparfum der Sowjets? Man kann sich im Internet behelfen, denn „Rotes Moskau“ist als Nostalgieprodukt heute problemlos erhältlich; allerdings ist fraglich, wie viel diese Produkte mit dem ursprünglichen Duft zu tun haben. Ganz verloren scheint er jedenfalls nicht: 2011 übergab die Generaldirektorin der Erzeugerfirma Nowaja Sarja dem damaligen russischen Präsidenten, Dmitri Medwedew, eine Originalprobe – von 1913.