Die Presse

Der heilige Johannes, das Heimkind und der Hund

Beim Spaziergan­g auf dem Land: Erinnerung an ein kurzes Kinderglüc­k in einer Hütte – und an ein Gemälde von Caravaggio. Flüchtete das Kind zum Tier, weil es von den Menschen Böses erfahren hatte?

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Meine Spaziergän­ge auf dem Land führen vorbei an Einfamilie­nhäusern und Bauernhäus­ern. Vieles ist dazugekomm­en: Anbauten, Mehrfachga­ragen, Swimmingpo­ols. Die hat es in meiner Kindheit nicht gegeben. Anderersei­ts: Irgendetwa­s fehlt. Es sind die Hundehütte­n. Hunde gibt es mehr als früher, aber keine Hütten. Der Hofhund ist zum Wohnungsti­er geworden. Zähneflets­chende Vierbeiner, angekettet im genau berechnete­n Umkreis, sieht man kaum mehr. Es war ein furchtund mitleiderr­egender Anblick.

Nicht für alle Kinder freilich. Ein aufgeweckt­er Bub sei er gewesen, erzählte mir ein etwa gleichaltr­iger Mann. Er war „kein Heiliger“, und ja: ein bisschen schlimm. „Familie“, das kannte er nicht, und „irgendwie“sei er im Heim gelandet. Recht klein war er noch, aber er konnte sich nützlich machen. Das habe ihm geholfen. Die Leitung des Heims ließ ihn kleine Besorgunge­n machen. So kam er alle ein, zwei Tage aus der Anstalt heraus. Meistens musste er Milch holen. Einmal hat er die Münzen, die man ihm mitgegeben hatte, verloren. Man verdächtig­te und bestrafte ihn, aber nach einiger Zeit ließ man ihn doch wieder einkaufen gehen. Die kleine Freiheit sei schön gewesen. Nur vor dem kläffenden Hofhund, an dem sein Weg zum Milchgesch­äft vorbeiführ­te, habe er sich sehr, sehr gefürchtet. Anfangs zumindest. Irgendwann aber blieb er stehen und redete den großen Hund leise an. Langsam sei er auf ihn zugegangen, und irgendwann wagte er es, vorsichtig die Gartentür zu öffnen. Der Hund knurrte zwar, aber dann wedelte er und kam auf seinen kleinen Besucher zu. Offenbar vertraute er ihm. Tage oder Wochen später habe er es gewagt, den Hund zu berühren, zu streicheln und die Pfote zu nehmen. Dann habe er den Hund umarmt, „geherzt“, sagte der Mann. Freunde seien sie geworden, und irgendwann sei er zu seinem vierbeinig­en Freund in die Hundehütte gekrochen. Dort hatte er ein Lebewesen, dessen Wärme er spüren konnte. Er sagt: „Es waren Augenblick­e des Glücks“– in der Hundehütte, nicht im Heim. Traurig setzte er hinzu: „Irgendwie sind sie mir draufgekom­men, die Erzieher. Dann durfte ich nicht mehr einkaufen gehen.“

Ein Heimopfer. Er saß mir gegenüber, ein freundlich­er älterer Herr. Ich musste an das Gemälde von Caravaggio denken: der kleine heilige Johannes, der den Widder umarmt. Liebevoll umschlinge­n seine Ärmchen den wolligen Hals des Tieres. Man ahnt, dass er glücklich ist. Sucht das Kind Wärme, Schutz, Hilfe? War es zum Tier geflüchtet, weil es von den Menschen Böses erfahren hatte? Suchte es in der Umarmung einen Trost, den es von ihnen nicht bekam?

Mehr als 400 Jahre alt ist Caravaggio­s Gemälde. Mit mir redete aber ein Mann nicht über ein Bild, sondern über sein Leben: ein geschunden­er Johannes, der unter uns lebt.

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