„Erkennen, was wir alles nicht brauchen“
Interview. Psychotherapeut Michael Lehofer über das Positive, das uns diese Krise lehren kann, über den Mut als Vorbedingung der Angst und darüber, wie die Einsamkeit ihre Macht verlieren kann.
Die Presse: Wie wirkt sich die soziale Isolation auf unsere Psyche aus?
Michael Lehofer: Das hängt einmal davon ab, ob man jemand anderen neben sich hat. In der sozialen Isolation sind Menschen gleichsam aufeinander geworfen. Da zeigt sich, ob sie sich gut verstehen oder nicht. Die Wahrheit kommt geradezu magisch ans Licht, man sieht seine Mitmenschen noch viel deutlicher als zuvor. Bei Menschen, die allein sind, kommt es darauf an, ob sie es gut mit sich aushalten oder nicht. Manche Menschen halten es wunderbar mit sich aus, andere tun sich schwer. Darum kann man nicht verallgemeinern, wie sich die soziale Isolation auf die Psyche auswirkt. Ich kenne viele Menschen, die sagen, schön, dass einmal keine Notwendigkeit besteht, mir zu überlegen, wohin ich gehe und mit wem ich etwas ausmache. Die Getriebenheit, sich zu unterhalten, fällt weg. Manche genießen diese Situation geradezu. Viele aber werden sie als sehr belastend erleben. Dabei spielt natürlich auch die Zeit eine Rolle.
Belastend kann auch die Angst als Emotion sein. Ist sie legitim?
Angst ist grundsätzlich nicht nur eine legitime Emotion, sondern auch notwendig. Wenn ich von einer Epidemie betroffen bin, ist es klar, dass ich Angst habe. Jeder darf Angst haben. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Mut etwas ist, was Angst voraussetzt. Man kann nur mutig sein, wenn man vorher ängstlich ist. Es ist sinnvoll, mutig in Zeiten vermehrter Ängste zu sein. Ich meine nicht den blinden Mut, sondern einen optimistischen, zuversichtlichen Lebensmut. Das heißt, ich tue das, was zu tun ist, ich bin solidarisch, ich halte die Regeln, die die Bundesregierung vorgegeben hat, penibel ein, und sonst folge ich dem schönen Satz des heiligen Don Bosco, der aus Turin kommt und im 19. Jahrhundert gelebt hat: Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen. Wohlbemerkt: Man kann sich auch selbst etwas Gutes tun.
Wie gehe ich damit um, wenn mich die Angst überwältigt?
Es ist dann wichtig, sich zurückzulehnen und zu reflektieren: Wie ist meine Lage wirklich? Besteht ein Grund für dieses Ausmaß von Ängsten für mich, wie sieht diese Bedrohung genau aus, und vor allem, kann ich etwas gegen diese Bedrohung tun? Es ist wichtig, sich zu fragen, was man selbst überhaupt tun kann. Mehr als das zu tun, was man kann, ist nicht möglich, so banal das klingt. „Gib dein Bestes“ist, was wir der Angst entgegensetzen können. Ein Restrisiko wird vom Schicksal noch vorgesehen sein, dem können wir nicht entgehen. So einfach ist es. Die Dinge durchspielen und durchdenken ist das Einzige, was man tun kann, so kommt man auch zum eigenen Standpunkt und taumelt nicht mehr durch das eigene Leben.
Eine weitere Emotion ist die Einsamkeit, die jetzt noch einmal verschärft wird. Was nimmt Betroffenen die Einsamkeit? Einsamkeit hat mit Alleinsein verblüffend wenig zu tun. Man kann ja in einer Beziehung mitunter einsamer sein als allein. Wenn man anfragt: „Ist wer da?“, und es antwortet niemand, dann ist man einsam, man greift sehnsüchtig ins Leere. Das macht den großen Schmerz der Einsamkeit aus: Man hat niemanden, wenn man jemanden brauchen würde. Umgekehrt: Wenn man das Gefühl hat, man hätte jemanden, wenn man jemanden brauchen würde, ist man nicht einsam, sondern maximal allein. Das kann auch ein schöner Zustand sein. Dieser andere muss nicht ein anderer Mensch sein, das kann auch Gott, die Natur oder man selbst sein. Und die Einsamkeit ist etwas, was viele Menschen schon vor der Krise hatten. Aber da hatten sie eventuell Möglichkeiten, vor ihr davonzulaufen. Und jetzt, in der Krise, kommt die Einsamkeit ungeschützt auf sie zu. Aber das ist natürlich auch gleichermaßen eine Chance, weil sie erleben, dass die Einsamkeit, der sie jetzt nicht entkommen können, etwas ist, was sie nicht umbringt. Etwas, was sie bewälti
gen können, was sie aushalten lernen können. Wenn sie diese Lektion des Lebens annehmen, dann verliert die Einsamkeit ihre dämonische Kraft. Dann wird sie vom monströsen Ungetüm zum Haustier.
Kommen wir vom individuellen zum gesellschaftlichen Aspekt. Schweißt uns diese Situation zusammen?
Natürlich. Menschen kümmern sich umeinander, Solidarität entsteht – in einer Gesellschaft, die wir als Ego-Gesellschaft erlebt haben, die wir so noch nicht kennen. Das sind die positiven Erfahrungen, die wir jetzt machen können. Ich hoffe, das geht so weiter und ich hoffe, wir können uns das auch erhalten für die Zeit, in der wir nicht mehr in der Krise sein werden.
Was können wir noch Positives aus dieser Situation mitnehmen?
Es gibt viele positive Erfahrungen, die wir jetzt machen können. Wir können erkennen, was wir alles nicht brauchen. Wir können erkennen, dass es auch schön sein kann, wenn man nichts vorhat, wenn man Zeit für sich hat. Wenn man sich nicht unbedingt amüsieren muss. Das Leben schmeckt auch pur köstlich: Das habe ich von Menschen gelernt, die sich an der Kippe zum Tod befanden. Die Erfahrung, dass Bescheidenheit mit einer überraschenden Fülle belohnt wird, kann jetzt gemacht werden. Wir können erkennen, dass uns auch der Verlust des vermeintlich Notwendigen nicht umbringt, sondern sogar bereichern kann. Vielen Menschen ist aber nicht nach positiven Erfahrungen zumute: Sie erleben eben berufliche und ökonomische Existenzangst. Ihnen ist zu sagen, dass sie nicht allein sind. Es betrifft uns alle, wenn die Wirtschaft zusammenbricht, wir müssen gemeinsam schauen, dass das nicht passiert. Dies bedarf engagierter Solidarität.
Was wollen Sie Menschen mit auf den Weg geben, die sich gerade in Quarantäne befinden, um bestmöglich mit der Situation umzugehen?
Dass sie aus der Situation das Beste machen sollen. Ich erinnere mich gern an eine Geschichte, die der amerikanische Schriftsteller Henry Miller erzählt hat. Er kam eines Tages nach Hause und fand eine leere Wohnung vor. Seine Frau war mit den Möbeln und dem Interieur ausgezogen. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Deprimiert lag er zwei Tage lang auf der einzigen Matratze, die sie ihm dagelassen hatte. Doch dann hatte er eine Idee: Er schnallte sich seine Rollschuhe an und fuhr durch die Wohnung, was nur deshalb möglich war, weil keine Teppiche mehr drin lagen. So gewann er wieder Lebensmut. Das ist eine schöne Geschichte, weil sie zeigt: Jeder Verlust macht Räume frei, die man nutzen kann, wenn man nicht in seiner Verzweiflung verstrickt bleibt.
Sie schreiben in Ihren Büchern über Selbstliebe und über eine positive Beziehung zu sich selbst. Was tun Sie momentan für sich persönlich Gutes?
Ich versuche, die ruhigen Abende gut mit meiner Frau, mit mir zu verbringen, Bücher zu lesen und genug zu schlafen, weil ich doch sehr gefordert bin.
Als ärztlicher Direktor eines Landeskrankenhauses ist Daheimbleiben für Sie keine Option, nehme ich an.
Das stimmt, ich habe mehr denn je zu tun und bin nicht daheim, sondern momentan mit meiner beruflichen Aufgabe vor Ort sehr beschäftigt. Unser Spital hat 1200 Betten und ist ein infektiologisches Zentrum in der Steiermark. Es ist, so könnte man es formulieren, ein Corona-Schwerpunktspital. Wir alle haben unser Bestes zu geben. Aber mittlerweile sind wir gut vorbereitet und ich bin sehr zufrieden und innerlich ruhig.