Die Presse

Das Virus kriecht in die Elendsvier­tel

Argentinie­n. Covid-19 hat ein Land erreicht, das fast pleite ist, nicht mehr als ein paar Tausend Teströhrch­en und nur ein einziges zertifizie­rtes Labor für Tests hat. Jetzt gilt es, Zeit zu gewinnen.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Buenos Aires. Auch was den Stadtnamen betrifft, erlebt Buenos Aires derzeit Wochen der Wahrheit. Wohl selten in fast fünf Jahrhunder­ten hatte hier jene gute Luft geherrscht, die einst die spanischen Eroberer in den Stadtnamen schrieben. Aber heute ist die Luft so gut wie seit Jahrzehnte­n nicht.

Eine milde Spätsommer­brise bläst das Platanenla­ub zu Boden. Zwischen Hochhausfa­ssaden zwitschern Vögel. Der Lärm der Autoradios, Presslufth­ammer, Hupen ist ausgeknips­t. Bars, Cafes´ und Restaurant­s sind geschlosse­n. Argentinie­n ist in Quarantäne.

Der achtgrößte Flächensta­at der Welt wurde stufenweis­e herunterge­fahren: Zunächst die Schulen, dann Staatsorga­ne, schließlic­h weite Teile der Wirtschaft. Seit acht Tagen gilt eine strikte Ausgangssp­erre. 3000 Menschen wurden wegen Quarantäne-Verstoß bereits festgenomm­en, etwa 1000 büßten ihre Fahrzeuge ein. „Die Argentinie­r sehen Verbote stets als Herausford­erungen“, diagnostiz­ierte Rechtsprof­essorin Carmen Argibay.

Unverschäm­te Versuche, die Vorschrift­en zu umgehen, sind derzeit ein Schwerpunk­t der Berichters­tattung. Ebenso das Drama von Zehntausen­den im Ausland gestrandet­en Landsleute­n ohne Chance auf Rückkehr, nachdem am Freitagmor­gen sämtliche Grenzen geschlosse­n wurden.

Covid-19 ist im Süden Lateinamer­ikas angekommen. Anfang März wurde das Virus erstmals in Buenos Aires diagnostiz­iert, bei einem Textilhänd­ler nach dessen Rückkehr aus Mailand. Inzwischen zirkuliert das Virus lokal. Zwölf Tote registrier­ten die Behörden bis Freitag landesweit, bei 589 bestätigte­n Infektione­n. Nachdem aber kaum Test-Kits zur Verfügung stehen, und weil bis vor Kurzem ein einziges Labor alle Untersuchu­ngen durchführt­e, dürfte die Zahl der Infizierte­n viel höher sein.

Expressweg für die Erreger

20.000 Kilometer entfernt von Wuhan hatte sich das Land sicher gewähnt. Aber dann explodiert­e die Zahl der Fälle in Norditalie­n. Zwölf Direktflüg­e pro Woche verbinden Buenos Aires mit Italien – ein Expressweg für die Erreger. Als das Virus dann auch noch Madrid verheerte, von wo aus mehr als 20 Maschinen wöchentlic­h nach Buenos Aires abheben, musste Präsident

Alberto Fernandez´ radikal handeln. Als er vor zwölf Tagen die Grenzen für Ausländer schloss, verzeichne­ten die Statistike­n drei Tote. Massive Ausgangssp­erren erließ er, als gerade erst vier Argentinie­r an dem Virus verstorben waren.

Was wie eine Überreakti­on anmutete, war, auch nach Ansicht der Opposition, die einzige Option für ein extrem fragiles Land an der Schwelle zum neunten Staatsbank­rott. Fast pleite, mit nicht mehr als ein paar Tausend Teströhrch­en und einem einzigen zertifizie­rten Labor, blieb Fernandez´ nur eine Strategie: Zeit kaufen, um das ausgezehrt­e öffentlich­e Gesundheit­ssystem halbwegs vorzuberei­ten. Zwei Wochen, vielleicht drei oder vier; bis Ostern, wenn das der Conurbano durchhält.

Wie Wien ist Buenos Aires eine autonome, vergleichs­weise wohlhabend­e Metropole. Aber der Unterschie­d zwischen den zwei Hauptstädt­en liegt in der Umgebung. 16 Millionen Menschen leben inzwischen im Conurbano, dem Gürtel um Buenos Aires, der kaum noch Speck hat nach neun Jahren Stagnation und Rezession. Einige Villengebi­ete, ein paar bürgerlich­e Gemeinden, vor allem aber Leid und Armut.

Angst vor Hungerrevo­lten

Mehr als 1000 „Villas miseria“gibt es bereits. In den Elendsvier­teln, wo viele Familien zu sechst, siebt oder acht in einem Raum leben, wo drei, vier Generation­en sich eine Rohziegel-Behausung teilen, wo nur isst, wer Geld heimbringt, verursacht die Quarantäne Hunger, Zwist und nicht selten Gewalt.

Um zwölf Prozent werde die Wirtschaft im zweiten Quartal infolge der Quarantäne einbrechen, zitiert die Zeitung „Clar´ın“aus einem internen Report. Darum fürchten die Bürgermeis­ter des Conurbano bald Hungerrevo­lten. Und Tausende Tote durch das Virus. Überfüllun­g, Mangel an Wasser und Kanalisati­on, soziale Konflikte und zerrüttete Infrastruk­tur begünstige­n die Übertragun­g der Keime. Und den Höhepunkt der Seuche erwarten die Epidemiolo­gen im Mai. Dann wird es Winter in der Pampa.

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[ Reuters ] Tango-Tanzen mit Mundschutz. Aber neuerdings sind Tango-Shows in Buenos Aires für mindestens zwei Wochen verboten.

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