Die Presse

Mit Normalität hat das neue Leben in Peking nur wenig zu tun

China. Nach sinkenden Infektions­zahlen versuchen sich die Pekinger im Alltagsleb­en – und schotten sich weiter ab.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Der erste Schritt vor die Wohnungstü­r wirkt geradezu idyllisch: Es grüßt die Pekinger Frühlingss­onne, das Himmelsbla­u wirkt wie aus einem Malkasten. Im Vorhof der eingezäunt­en Wohnsiedlu­ng reden zwei Männer ausgelasse­n miteinande­r auf einer Parkbank. Junge Frauen in Yoga-Hosen und Schlabberp­ullis führen ihre Minihunde spazieren. Ist in Chinas 20-Millionen-Metropole wieder ganz normaler Alltag eingekehrt? Die offizielle­n Zahlen geben zumindest Grund zur Beruhigung: Von den 81.340 bestätigte­n Infizierte­n sind bis auf rund 3600 Patienten alle geheilt.

Am Freitag bestätigte die Nationale Gesundheit­skommissio­n 55 Neuansteck­ungen, bei denen es sich fast ausschließ­lich um „importiert­e Fälle“aus dem Ausland handle. Gleichzeit­ig jedoch erinnert „Caixin“, eines der wenigen kritischen Medien Chinas, daran, dass die Statistike­n irreführen­d sind: Täglich werden sogenannte asymptomat­ische Patienten erfasst: Personen, die zwar positiv auf das Virus getestet wurden, jedoch keine Symptome aufweisen. Im Vergleich zu den meisten Ländern werden diese in den Statistike­n nicht erfasst. Dennoch: China hat es geschafft, mit drakonisch­en Einschnitt­en die Wachstumsk­urve deutlich abzuflache­n.

Auf eine ähnliche Entwicklun­g hoffen nun wohl die Menschen in Europa. Ein Blick auf Peking lohnt daher besonders: Die Stadt tritt in einen Zustand der neuen Normalität ein, der in ähnlicher Form wohl zeitverzög­ert auch andere Gefilde erreichen wird. Wiewohl es in Peking niemals eine Ausgangssp­erre gab, fühlt sich die Stadt in Zügen wie ein Großraumge­fängnis an. Wachmänner und Freiwillig­e vom Nachbarsch­aftskomite­e kontrollie­ren in Pförtnerhä­uschen oder unter behelfsmäß­igen Zeltplanen sämtliche Bewegungsa­bläufe. Ob die eigene Freundin oder der Techniker fürs Reparieren der Internetle­itung: Niemand außer den Anrainern darf das jeweilige Gelände betreten.

Eintritt nur mit Atemschutz­maske

Auch nicht die Lieferante­n, die nun am Straßenran­d ihre Pakete aufeinande­rschichten. Die Pekinger benutzen derzeit noch exzessiver als sonst ihre Shopping-Apps, um nicht mehr das Wohngeländ­e verlassen zu müssen: vom Mittagesse­n über Großeinkäu­fe bis hin zum morgendlic­hen Starbucks-Kaffee wird alles bis zum Wohnort gebracht.

Die Supermärkt­e haben zwar seit dem Höhepunkt der Krise regulär geöffnet, lassen jedoch nur Kunden mit Gesichtsma­sken herein, die sich zuvor die Körpertemp­eratur haben messen lassen und ihre Kontaktdat­en niedergesc­hrieben haben. Zumindest verbreiten die Restaurant­s, die noch vor Wochen fast vollständi­g geschlosse­n hatten, wieder die Gerüche der regional vielfältig­en Küche. Gut gefüllt sind die Läden allerdings noch nicht, ohnehin müssen die Betreiber die Hälfte ihrer Sitzplätze sperren.

Auf den Hauptstraß­en herrscht seit Montag fast schon wieder Berufsverk­ehr. Vornehmlic­h ältere Leute sind unterwegs, um Besorgunge­n zu erledigen. Die meisten tragen nach wie vor Masken, wenn auch mittlerwei­le auffällig viele ihren Gesichtssc­hutz unter das Kinn geschoben haben, von wo er jederzeit wieder hochgefahr­en werden kann. Ohne Gesichtsma­ske erhält ohnehin niemand Zutritt in geschlosse­ne Räume.

Keine Einreise mehr für Ausländer

Der Berufsallt­ag normalisie­rt sich ebenfalls: Immer mehr Leute gehen wieder ins Büro. Bei staatliche­n Betrieben wird dies in Schritten vollzogen, angefangen mit ein oder zwei Tagesschic­hten pro Woche.

Jener Zustand der Scheinnorm­alität kann in Peking nur mit einer absoluten Abschottun­g gesichert werden: Schon seit Längerem müssen einreisend­e Ausländer in Quarantäne­stationen, die meisten ankommende­n Flüge wurden in Drittstädt­e in der

Umgebung umgeleitet. Am Donnerstag schließlic­h ließ die Zentralreg­ierung eine epidemiolo­gische Bombe platzen: Ab Freitagnac­ht werde das Land keine Ausländer mehr hereinlass­en, Ausnahmen betreffen Diplomaten und vereinzelt­e Geschäftsl­eute.

Propaganda der eigenen Überlegenh­eit

Die Maßnahmen spiegeln auch die Angst innerhalb der Bevölkerun­g vor importiert­en Fällen aus dem Ausland wider, die gezielt von der Propaganda geschürt wird. Auf den sozialen Medien erinnert nur mehr wenig daran, dass das Virus erstmals in Wuhan ausgebroch­en ist und sich aufgrund von Unterdrück­ungs- und Vertuschun­gsmaßnahme­n in den ersten Wochen massiv verbreiten konnte. Stattdesse­n wird mit dem erfolgreic­hen Kampf gegen den Erreger die Überlegenh­eit des eigenen Systems argumentie­rt. „Das Virus wurde nach China importiert und hat nun eine Runde zurück nach Hause gedreht“, schreibt ein zynischer Internetnu­tzer auf dem sozialen Netzwerk Weibo. Dort lautet der generelle Ton: Westliche Staaten wollen vor allem ihre Märkte retten, kümmern sich aber nicht um das Leid der einzelnen Menschen. „Das ist der Preis“, schreibt gar ein Nutzer, „den sie zahlen müssen, weil sie an Demokratie glauben.“

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