Mit Normalität hat das neue Leben in Peking nur wenig zu tun
China. Nach sinkenden Infektionszahlen versuchen sich die Pekinger im Alltagsleben – und schotten sich weiter ab.
Peking. Der erste Schritt vor die Wohnungstür wirkt geradezu idyllisch: Es grüßt die Pekinger Frühlingssonne, das Himmelsblau wirkt wie aus einem Malkasten. Im Vorhof der eingezäunten Wohnsiedlung reden zwei Männer ausgelassen miteinander auf einer Parkbank. Junge Frauen in Yoga-Hosen und Schlabberpullis führen ihre Minihunde spazieren. Ist in Chinas 20-Millionen-Metropole wieder ganz normaler Alltag eingekehrt? Die offiziellen Zahlen geben zumindest Grund zur Beruhigung: Von den 81.340 bestätigten Infizierten sind bis auf rund 3600 Patienten alle geheilt.
Am Freitag bestätigte die Nationale Gesundheitskommission 55 Neuansteckungen, bei denen es sich fast ausschließlich um „importierte Fälle“aus dem Ausland handle. Gleichzeitig jedoch erinnert „Caixin“, eines der wenigen kritischen Medien Chinas, daran, dass die Statistiken irreführend sind: Täglich werden sogenannte asymptomatische Patienten erfasst: Personen, die zwar positiv auf das Virus getestet wurden, jedoch keine Symptome aufweisen. Im Vergleich zu den meisten Ländern werden diese in den Statistiken nicht erfasst. Dennoch: China hat es geschafft, mit drakonischen Einschnitten die Wachstumskurve deutlich abzuflachen.
Auf eine ähnliche Entwicklung hoffen nun wohl die Menschen in Europa. Ein Blick auf Peking lohnt daher besonders: Die Stadt tritt in einen Zustand der neuen Normalität ein, der in ähnlicher Form wohl zeitverzögert auch andere Gefilde erreichen wird. Wiewohl es in Peking niemals eine Ausgangssperre gab, fühlt sich die Stadt in Zügen wie ein Großraumgefängnis an. Wachmänner und Freiwillige vom Nachbarschaftskomitee kontrollieren in Pförtnerhäuschen oder unter behelfsmäßigen Zeltplanen sämtliche Bewegungsabläufe. Ob die eigene Freundin oder der Techniker fürs Reparieren der Internetleitung: Niemand außer den Anrainern darf das jeweilige Gelände betreten.
Eintritt nur mit Atemschutzmaske
Auch nicht die Lieferanten, die nun am Straßenrand ihre Pakete aufeinanderschichten. Die Pekinger benutzen derzeit noch exzessiver als sonst ihre Shopping-Apps, um nicht mehr das Wohngelände verlassen zu müssen: vom Mittagessen über Großeinkäufe bis hin zum morgendlichen Starbucks-Kaffee wird alles bis zum Wohnort gebracht.
Die Supermärkte haben zwar seit dem Höhepunkt der Krise regulär geöffnet, lassen jedoch nur Kunden mit Gesichtsmasken herein, die sich zuvor die Körpertemperatur haben messen lassen und ihre Kontaktdaten niedergeschrieben haben. Zumindest verbreiten die Restaurants, die noch vor Wochen fast vollständig geschlossen hatten, wieder die Gerüche der regional vielfältigen Küche. Gut gefüllt sind die Läden allerdings noch nicht, ohnehin müssen die Betreiber die Hälfte ihrer Sitzplätze sperren.
Auf den Hauptstraßen herrscht seit Montag fast schon wieder Berufsverkehr. Vornehmlich ältere Leute sind unterwegs, um Besorgungen zu erledigen. Die meisten tragen nach wie vor Masken, wenn auch mittlerweile auffällig viele ihren Gesichtsschutz unter das Kinn geschoben haben, von wo er jederzeit wieder hochgefahren werden kann. Ohne Gesichtsmaske erhält ohnehin niemand Zutritt in geschlossene Räume.
Keine Einreise mehr für Ausländer
Der Berufsalltag normalisiert sich ebenfalls: Immer mehr Leute gehen wieder ins Büro. Bei staatlichen Betrieben wird dies in Schritten vollzogen, angefangen mit ein oder zwei Tagesschichten pro Woche.
Jener Zustand der Scheinnormalität kann in Peking nur mit einer absoluten Abschottung gesichert werden: Schon seit Längerem müssen einreisende Ausländer in Quarantänestationen, die meisten ankommenden Flüge wurden in Drittstädte in der
Umgebung umgeleitet. Am Donnerstag schließlich ließ die Zentralregierung eine epidemiologische Bombe platzen: Ab Freitagnacht werde das Land keine Ausländer mehr hereinlassen, Ausnahmen betreffen Diplomaten und vereinzelte Geschäftsleute.
Propaganda der eigenen Überlegenheit
Die Maßnahmen spiegeln auch die Angst innerhalb der Bevölkerung vor importierten Fällen aus dem Ausland wider, die gezielt von der Propaganda geschürt wird. Auf den sozialen Medien erinnert nur mehr wenig daran, dass das Virus erstmals in Wuhan ausgebrochen ist und sich aufgrund von Unterdrückungs- und Vertuschungsmaßnahmen in den ersten Wochen massiv verbreiten konnte. Stattdessen wird mit dem erfolgreichen Kampf gegen den Erreger die Überlegenheit des eigenen Systems argumentiert. „Das Virus wurde nach China importiert und hat nun eine Runde zurück nach Hause gedreht“, schreibt ein zynischer Internetnutzer auf dem sozialen Netzwerk Weibo. Dort lautet der generelle Ton: Westliche Staaten wollen vor allem ihre Märkte retten, kümmern sich aber nicht um das Leid der einzelnen Menschen. „Das ist der Preis“, schreibt gar ein Nutzer, „den sie zahlen müssen, weil sie an Demokratie glauben.“