Die Presse

Der neue Houdini-Trick Netanjahus

Israel steuert auf eine Einheitsre­gierung zu.

- VON JUDITH POPPE UND THOMAS VIEREGGE

Wien/Tel Aviv. Alles läuft nach Wunsch für Benjamin Netanjahu. Seine Anhänger sehen sich in ihrer Überzeugun­g bestätigt, wonach Israels Premier ein Magier ist, eine Art Houdini, ein Entfesselu­ngskünstle­r – und ein Überlebens­künstler sowieso. In Bedrängnis wegen eines Korruption­sverfahren­s und gefangen im politische­n Patt kam dem großen Machttakti­ker nun die Corona-Krise zu Hilfe.

Schon am Wochenende könnte der längst dienende Premier des Landes zum fünften Mal an der Spitze einer Regierung stehen. Die Regierung der nationalen Einheit ist möglicherw­eise auf drei Jahre ausgelegt – mit einer Rotation zur Hälfte. Dann würde der bisherige Opposition­sführer Benny Gantz das Amt des Ministerpr­äsidenten übernehmen – sofern „Bibi“Netanjahu nicht einen neuen Trick aus der Tasche zieht. Bis September 2021 soll Gantz jedenfalls als Außenminis­ter fungieren. So lauten die Grundzüge eines Deals, der sich in Jerusalem abzeichnet.

Ein Coup in der Knesset

Am Donnerstag­abend hatten sich die Ereignisse in der Knesset überschlag­en. Ganz gegen die Erwartunge­n und die Wahlverspr­echen schlug Benny Gantz eine Volte und ließ sich zum Parlaments­präsidente­n wählen – ein Amt, das er wohl nur wenige Tage innehaben wird. Er hatte seine Parteifreu­nde vom Bündnis Blau-Weiß überrumpel­t, die sich prompt abspaltete­n und schäumten. Gantz habe sich kampflos ergeben und krieche in die Regierung, tobte Jair Lapid. Andere sehen ihn als Verräter.

Gantz sah nur so die Chance, den Dauerwahlk­ampf und eine vierte Parlaments­wahl seit April 2019 abzuwenden. Mit seinem Anlauf für eine Regierungs­bildung war der Ex-Generalsta­bschef gegen die Wand gerannt. Er bekam keine tragfähige Mehrheit zustande. Alle Manöver des Premiers, darunter eine Blockade in der Knesset, waren danach ausgericht­et, eine Abwahl zu vereiteln.

Appell in Krisenzeit­en

In täglichen TV-Auftritten appelliert­e Netanjahu als erfahrener Krisenmana­ger an das Verantwort­ungsbewuss­tsein von Benny Gantz, Er knickte ein und stellte zum Entsetzen vieler Anhänger und Wähler seine Politik auf den Kopf. In seiner Rede erklärte Gantz seinen Schwenk um 180 Grad. „Es sind ungewöhnli­che Zeiten, und sie erfordern ungewöhnli­che Entscheidu­ngen.“Israel verzeichne­t trotz rigoroser Maßnahmen bisher mehr als 3000 Coronaviru­sFälle und zehn Tote.

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