„Virus könnte sich sehr, sehr schnell verbreiten“
Syrien. Im Nordwesten des Landes rund um Idlib leben eine Million Menschen in überfüllten Vertriebenen-Camps. Der Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen warnt im „Presse“-Gespräch vor verheerenden Folgen eines Corona-Ausbruchs.
Wien/Idlib. Sie leben schon seit Jahren im Ausnahmezustand, leiden unter Bombardements, Mangel an Nahrung und den Umtrieben jihadistischer Gruppen. Jetzt sind die Menschen mit einer weiteren Bedrohung konfrontiert: dem Ausbruch einer Corona-Epidemie.
Schon vor Tagen hat das Virus das von Krieg gepeinigte Syrien erreicht. Mindestens fünf Personen wurden im vom Regime kontrollierten Gebiet bisher positiv getestet. Jetzt wächst die Sorge, dass sich die Krankheit auch im Nordwesten des Landes ausbreitet, in der Region Idlib, der letzten umkämpften Hochburg der Rebellen.
Dort hat das Regime mit seinen Verbündeten Russland und Iran im Dezember eine Offensive gegen die Aufständischen und deren Schutzherrin Türkei gestartet. Offiziell gilt nun eine Waffenruhe. Doch wegen der Gefechte mussten fast eine Million Zivilisten aus ihren Häusern fliehen. Die Lager für intern Vertriebene sind überfüllt.
„Oft leben zwei bis drei Familien in einem Zelt, das nur für fünf
Personen ausgelegt ist“, berichtet Hakim Khaldi, Leiter des SyrienEinsatzes von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Telefongespräch mit der „Presse“. Dadurch sei die Gefahr einer Ansteckung groß. „Das Coronavirus könnte sich hier sehr, sehr schnell verbreiten.“
Das wäre eine Katastrophe. Denn bereits jetzt liegt das Gesundheitssystem in der Region Idlib am Boden. „Die Kapazitäten sind sehr eingeschränkt – wegen der Kämpfe und der Bombardierung von Spitälern“, sagt der MSFEinsatzleiter. Ärzte ohne Grenzen hat derzeit rund 120 lokale Mitarbeiter in Nordwestsyrien im Einsatz – die meisten davon in einem von MSF betreuten Spital. Dazu kommen zwei mobile Kliniken.
WHO startete Tests
Mit der Corona-Krise ist für Helfer alles noch schwieriger geworden. Vor dem Spital werden ankommende Patienten auf Symptome von Covid-19 untersucht. „Das bindet Kapazitäten. Wir mussten für unser Personal Schutzkleidung organisieren“, sagt Hakim Khaldi. Wer verdächtige Symptome hat, wird in einen Isolationsraum gebracht und dann in ein Quarantänespital verlegt. Bis vor wenigen Tagen konnten diese Patienten aber nicht auf das Coronavirus getestet werden. „Wir waren bei unserer Arbeit gleichsam blind“, berichtet der MSF-Mitarbeiter.
Nun hat die Weltgesundheitsorganisation WHO aber auch im Nordwesten Syriens mit Tests begonnen und das Labor in Idlib für die Auswertung der Proben ausgestattet. Bis Freitagmorgen stieß sie zunächst auf keinen positiven Fall.
Laut Hakim Khaldi braucht es aber noch größere Anstrengungen. „Wir benötigen tägliche Testungen und bessere medizinische Einrichtungen.“Sollte es eine erste Welle an Infizierten geben, sei rasch die Grenze der Kapazitäten erreicht.
In der ganzen Region um Idlib leben Schätzungen zufolge rund drei Millionen Menschen. Nach Angaben des lokalen Idlib Health Directorates (IHD) gibt es aber nur 95 Sauerstoffkonzentratoren für die Beatmung von Patienten.
Was den Einsatz von MSF weiter erschwert, sind die neuen Ausfuhrbeschränkungen für medizinische Ausrüstung. Die meisten Staaten wollen dieses Material in der Corona-Krise für sich selbst behalten. „Zuerst haben die europäischen Länder mit den Beschränkungen begonnen. Jetzt macht das auch die Türkei“, klagt Hakim Khaldi. „Es gibt Restriktionen für Beatmungsgeräte, Überwachungsmonitore für Patienten und Schutzkleidung für die Ärzte. Das würde uns bei einem Covid-19-Ausbruch deutlich einschränken.“Nur die WHO sei von diesen Vorgaben nicht betroffen.
„Nicht genügend Wasser“
Auch Flüssigseife dürfe nicht mehr nach Idlib ausgeführt werden. Dabei sind Hygienemaßnahmen eine wichtige Waffe gegen das Coronavirus. In den Vertriebenen-Camps Nordsyriens sorgt dabei nicht nur der Mangel an Seife für Probleme. „Wir sagen den Menschen, dass sie sich mindestens 20 Sekunden lang die Hände waschen sollen“, erklärt Doktor Munzer al-Khalil, Chef des Idlib Health Directorates, in einem Video auf Twitter. „Aber es gibt hier manchmal nicht einmal genügend Wasser zum Trinken.“