„Grundrechte sind kein Luxus“
Interview. Andrea Jelinek koordiniert die Zusammenarbeit der Datenschutzbehörden der EU-Mitgliedstaaten. Sie mahnt angesichts der Coronakrise zu erhöhter Achtsamkeit.
Die Presse: Konnten Sie sich schon einen Überblick über die diversen mit Covid-19 in Verbindung stehenden Apps und Datenüberlassungen der Telekombetreiber in den Mitgliedstaaten verschaffen? Andrea Jelinek: Man muss zwei Dinge unterscheiden: erstens nationale Bestrebungen von privaten Initiativen, Hilfsorganisationen und Regierungen, und zweitens das gemeinsame europäische Vorgehen. Zu den nationalen Initiativen kann ich wenig sagen. Denn da sind die jeweiligen nationalen Datenschutzbehörden zuständig.
In Polen gibt es eine behördliche App, welche Covid-19-Patienten, die in verordneter Heimquarantäne sind, täglich dazu auffordert, ein Selfie am Quarantäneort zu machen und an die Behörde zu schicken. Wer das nicht binnen 20 Minuten tut, erhält eine Verwaltungsstrafe. Ist das verhältnismäßig?
Ich weiß von meinen polnischen Kollegen nichts über allfällige Beschwerden. Ich muss auch hinzufügen, dass nationale Apps, gleich ob privat oder staatlich, nicht der Kontrolle des Europäischen Datenschutzausschusses unterliegen. Generell wäre es vermessen zu sagen, dass ich einen Überblick über die nationalen Maßnahmen in diesem Bereich hätte. Das ist schlicht nicht möglich, denn in allen Mitgliedstaaten wird an etwas gearbeitet.
Allerorten stellen Mobilfunkunternehmen den Gesundheitsbehörden oder Hilfsorganisationen Nutzerdaten in Metaform zur Verfügung, um die Verbreitungsmuster des Virus zu erfassen. Das sei kein Problem, denn die Daten seien ja anonymisiert. Doch wir wissen, dass sich durch geschickte Kombination mehrerer Datensätze aus solchen Metadaten sehr wohl Informationen über einzelne Menschen finden lassen. Was soll dagegen geschehen? Wenn es ausschließlich um die Verbreitungsmuster des Virus geht, sehe ich kein Problem. Aber wenn diese Daten individuell zuordenbar sind, dann sehr wohl. Allerdings ist es nicht so, dass da jemand allein im stillen Kämmerlein über Nacht eine App programmiert. Das erfordert Erfahrung.
Zudem ist bei diesen privaten Apps stets eine Datenschutz-Folgenabschätzung zu machen und eine Einwilligungserklärung des Users zur Nutzung der App einzuholen.
In manchen ostasiatischen Staaten klopft die Polizei an, wenn man jetzt während der Epidemie sein Handy samt der Corona-Überwachungs-App ausschaltet. Ist so etwas in Europa denkbar?
Wir leben Gott sei Dank in einer parlamentarischen Demokratie. Alle EU-Staaten sind solche und werden das hoffentlich auch bleiben. Ich persönlich kann und möchte mir so ein Szenario nicht vorstellen.
Diese Seuche und die technischen Möglichkeiten regen aber mancherorts die Fantasie an. Werden wir eines Tages eine App auf dem Handy haben, die uns davor warnt, dass wir uns einem mit dem Virus Infizierten nähern? In Südkorea ist so etwas schon im Einsatz. Das wäre doch ein sehr tiefer Eingriff in die Privatsphäre jedes potenziell Erkrankten.
Das wäre es zweifellos. Aber ich möchte nicht spekulieren. Und ich persönlich halte dies für höchst problematisch.
Nach jedem Terroranschlag werden die Grundrechte stückchenweise zurückgebaut. Befürchten Sie, dass die Corona-Krise unsere Vorstellung vom Recht auf Privatsphäre von Grund auf erschüttert? Grundrechte sind kein Luxus. Und ich hoffe auch, dass sie nie einer sein werden. Ich habe Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat und darauf, dass wir ihn schützen und gemeinsam weiterentwickeln können.