„Krise ist keine moralische Erziehungsanstalt“
Literatur. Er weiß, wie man in Coronazeiten grandiose Zimmerreisen macht, und empfiehlt baldige Ketzerei gegen gesundheitspolitische Aufrüstung: Der Autor KarlMarkus Gauß im Gespräch.
Die Presse: In Ihrem Buch „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“reisen Sie anhand von Gegenständen durch die Welt, die Zeiten, das eigene Leben. Das könnte im Coronajahr 2020 Schule machen . . . Karl-Markus Gauß: Ja, aber ich habe natürlich keinen literarischen Ratgeber für schwierige Lebenssituationen verfasst. Auch ist es ein Unterschied, ob man sich freiwillig zurückzieht oder der Rückzug verfügt wird. Etwas, das ich mit meinem Buch auch zeigen wollte, hat aber sicher gerade heute Gültigkeit: Wenn man die eigene Wohnung genauer wahrnimmt, die Dinge, die um einen sind, gleichsam wiederentdeckt, und den alltäglichen Gegenständen Aufmerksamkeit zuwendet, dann wird dieser Wohnraum nicht zum Gefängnis, sondern zu einem Ort, in dem sich die Welt und das eigene Ich treffen.
Sie reisen in Ihrem Buch anhand von körperlich Greifbarem. Glauben Sie, dass sich durch Corona Werte und Bedürfnisse verschieben könnten – ungeachtet der noch wachsenden Bedeutung des Digitalen?
Es ist ein Glück, dass uns digitale Medien und Mittel jetzt zur Verfügung stehen. Aber bei mir wächst jeden Tag der Wunsch, es mit wirklichen Menschen zu tun zu bekommen. Ich glaube, wir merken jetzt, wie sehr das Körperliche jene Realität ist, in der wir leben und die wir brauchen. Womöglich wird uns bald erzählt werden, dass die Virtualisierung unseres Lebens etwas Unaufhaltsames ist. Den meisten von uns wird aber wohl eher die Herrlichkeit des ganz normalen, des alltäglichen Lebens bewusst werden. Sie wissen ja, ich bin ein Liebhaber des Alltags. Nicht die schöne Reise einmal im Jahr, das große Fest kann dem Leben Sinn geben, der muss im Alltag zu finden sein.
Der deutsche Schriftsteller Eugen Ruge plädiert jetzt für die lebensrettende Verlangsamung – nicht nur gesundheitspolitisch. Stimmen Sie ihm zu?
Ja und nein. Mir kommt die Empfehlung zu priesterlich vor. Was soll sich alles entschleunigen? Ich zum Beispiel schätze es, manchmal mit Schnelldenkern und Meisterinnen des sprachwitzigen Zwischenrufs zusammen zu sein. Muss alles bedächtig werden? Wenn den Börsen ein Tempolimit verordnet wird und Aktien nicht mehr im Bruchteil von Sekunden verkauft und zurückgekauft werden, wäre das natürlich was Feines. Von sich aus wird aber kein Börsianer das Spiel verlangsamen. Der geht eher zweimal im Jahr in ein Trappistenkloster, um mit Schweigen und Heilfasten wieder Kraft für den finanzpolitischen Krieg zu tanken.
Die Literatur hatte immer eine Vorliebe für die Krankheit als Metapher. Warum?
geb. 1954 in Salzburg, wo er heute lebt, gibt die Zeitschrift „Literatur und Kritik“heraus und ist für Essays und Reisereportagen bekannt (wie „Ins unentdeckte Österreich“, „Die sterbenden Europäer“). 2019 erschien bei Zsolnay „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“. Das nächste Buch heißt „Die unaufhörliche Wanderung“.
Unter vielen Gründen gibt es einen ideologischen: Gesundheit war immer Bürgerpflicht und ist es heute mehr denn je. Die Pflicht zur Gesundheit, Fitness ist natürlich eine Religion in gottloser Zeit. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist zur Frage nach der richtigen Diät geworden. Da bedarf es der Ketzer, die gegen diese Dogmen und die gesundheitspolizeiliche Aufrüstung ihr Wort erheben. Und in der Literatur, in der es ohnedies nie darum gehen kann, herrschende Meinungen zu verkünden und die Macht zu bejubeln, ist es daher natürlich die Krankheit, die besonders beachtet, in bestimmtem Sinne auch geradezu gewürdigt wird. Jetzt müssen wir alles tun, um die Ausbreitung der Seuche zu verlangsamen. Später aber werden wir uns den Direktiven, allezeit für die Ertüchtigung unseres Leibes zu kämpfen, auch widersetzen müssen.
Das heißt, Sie bleiben vom plötzlichen Gesunde-Ernährungs-Schub, den man mancherorts jetzt bemerken kann, unberührt? Ich pflege mich moderat ungesund zu ernähren, was im Weltmaßstab natürlich moderat gesund bedeutet. Auf die Idee, mein
Lebensglück als Kraft durch Freude an einer Ernährung, die bis zur nächsten Saison als gesund gilt, zu definieren, bin ich noch nicht gekommen. Übrigens haben wir uns das Virus nicht durch ungesunde Ernährung eingehandelt und werden es durch makrobiotische Exerzitien auch nicht wieder los.
Was halten Sie generell von dem sich ausbreitenden Drang, der Epidemie diesen oder jenen Sinn zuzuschreiben? Zu suchen, was „uns die Krankheit lehrt“? Bekanntlich fällt es unserer Gattung besonders schwer, aus schlechten Erfahrungen zu lernen. Not ist kein spirituelles Erweckungserlebnis und die Krise keine moralische Erziehungsanstalt. Ob wir also mit verändertem oder gar verbessertem Charakter aus der Krise herauskommen werden, möchte ich bezweifeln. Wichtiger scheint mir, dass bestimmte ökonomische, staatliche, gesetzliche Dinge klüger geregelt werden. Um ein häufig erwähntes Beispiel zu bringen: Dass die überlebensnotwendigen Medikamente der Welt zu einem gefährlich großen Teil in China und Indien hergestellt werden, ist ein Beispiel für falsche Globalisierung.
Gewisse Gegenstände in Ihrem Buch erzählen auch von früher Globalisierung. Fürchten Sie wie manche als Nachwirkung der Coronakrise eine Verbiedermeierung, einen Rückzug ins Eigene, Kleine?
Das kann sein, muss aber nicht sein. Man erlebt ja jetzt nicht das Glück im Winkel, sondern das Unglück.
An welche Ereignisse, die Sie selbst erlebt haben, erinnert Sie die jetzige Zeit der Ausgangsbeschränkungen?
An jenen Sommer, den ich mit acht fiebernd und schwitzend im Bett verbringen musste, wegen einer schweren Lungenerkrankung. Von draußen hörte ich die Freunde, die auf der Fußballwiese spielten. Damals hat mich aber etwas gerettet, was mir erst in der traurigen Situation ein- und aufgefallen ist: Ich hatte doch lesen gelernt! Die Bücher, die sich bald zu meinen Seiten im Bett stapelten, haben mich hinaus in die Welt zu herrlichen Abenteuern geführt. Diese Erfahrung hat meinem Leben die Richtung gewiesen.
Reizt Sie die aktuelle Lage zum Schreiben oder erschlägt sie den Schreibtrieb eher? Ich schreibe an einem Buch, das mit Corona nichts zu tun hat. Und obwohl ich ja bereits fünf Bände mit Journalen veröffentlicht habe, reizt es mich nicht im Geringsten, jetzt mein spezielles Coronatagebuch zu führen. An solchen wird übrigens auch ohne mich kein Mangel herrschen.