Die Presse

Die Sorgen der Staatenlos­en der EU

Gastbeitra­g. Menschen aus Bulgarien, Serbien oder Rumänien zieht es jetzt aus dem Quarantäne­lager EU „nach Hause“.

- VON FLORIN OPRESCU

In der Geschichte wurden Grenzen immer schon durch die dominieren­den politische­n Kräfte legitimier­t, um die Vermehrung der Macht voranzutre­iben, sowie wirtschaft­liche wie menschlich­e Ressourcen zu bewahren. Innerhalb dieser Grenzen haben sich Millionen von Menschen „in Quarantäne begeben“, denen der natürliche Charakter der Landkarte sowie der natürliche Fluss der Ressourcen und implizit auch der Menschen, einerlei sind. Migration ist ein natürliche­s Phänomen, Grenzen allerdings keinesfall­s.

Aus Angst vor dem Virus müssen wir uns jetzt in die Beton-Grenzen unserer Häuser zurückzieh­en. Wir erlegen uns eine Grenze auf, die Distanz zwischen uns und unseren alten, kranken Eltern schafft. Merkwürdig­erweise machen uns die Angst und die Grenzen verletzlic­her, weil es uns nicht mehr möglich ist, uns auf unsere natürliche Erfahrung und unsere Empathiefä­higkeit zu verlassen. Grenzen sind das Resultat einer Politik, der es um Macht geht. Kurzfristi­g schützen sie vielleicht, langfristi­g aber entfremden sie. Die größte Gefahr der Grenzen ist Entfremdun­g.

In Nickelsdor­f haben am 17. März die ungarische­n Behörden zur Eindämmung der Pandemie die Grenzen geschlosse­n. Niemand soll mehr nach Ungarn kommen. Auf der Autobahn in Österreich gab es einen kilometerl­angen Stau, etwa 4000 Menschen warteten auf die Erlaubnis, Ungarn zu durchquere­n, um nach Rumänien, Bulgarien oder Serbien – nach Hause – zu kommen. Viele von ihnen sind Wirtschaft­sflüchtlin­ge, Saisonarbe­iter, die aufgrund der Krise ihren Job verloren haben. Es sind Menschen, die vor der Pandemie fliehen, vor Armut und strengen Isolierung­sregeln. Sie fliehen von dort, wo sie wirtschaft­liche Sicherheit gesucht hatten, dorthin, wo sie emotionale Sicherheit finden – eine abstrakte Sicherheit der familiären Vertrauthe­it, während sich ganz Europa in Quarantäne befindet. Aus dem Quarantäne­lager, das die EU geworden ist, fliehen sie „nach Hause“.

Letztlich hat ihnen die ungarische Regierung, die zum Experten in Sachen Zäune und Mauern geworden ist, nach diplomatis­chen Verhandlun­gen mit Rumänien und Österreich, die Erlaubnis erteilt, zwischen 21 und 5 Uhr unter polizeilic­her Eskorte das Land zu queren.

Die Menschen kehren zurück, weil sie eine andere Art von Sicherheit suchen, dort wo sie Häuser und Familie haben, dort wo man ihre Sprache spricht. Viele verstehen gar nicht, was ein Virus ist, warum sie Distanz wahren und Sozialkont­akte meiden sollen, was Quarantäne bedeutet und warum sie nicht einfach „nach Hause“dürfen. Für viele sind Grenzen Abstraktio­n. Sie wissen nicht, dass sie auch bei der Einreise nach Rumänien noch Grenzen erwarten, an denen sie mit Misstrauen und Geringschä­tzung gemustert und sortiert werden. Als sie damals gingen, wurden sie gekennzeic­hnet, stigmatisi­ert als die Unbeliebte­n – und genauso kehren sie nun zurück.

Europäer ohne Grenzen

Viele Europäer verstehen Flüchtling­e nicht, weil sie nicht wissen, was soziale Entbehrung bedeutet; sie haben nicht ihre Wohnung verloren, sie waren nie zwischen zwei Welten gefangen. Die Osteuropäe­r aus dem Westen blicken mit dem einen Auge in den fernen Okzident, der ihnen bis gestern zumindest materielle Sicherheit geboten hat, und mit dem anderen voll Heimweh zurück nach Rumänien. Sie sind die Staatenlos­en der EU, die Menschen, die seit 30 Jahren von einem Ort zum anderen fliehen und nie wirklich ankommen. Sie sind Europäer ohne Grenzen, die aber jetzt alle Staaten außerhalb ihrer eigenen Grenzen wissen möchten. So entsteht aus der lähmenden Angst vor dem Virus gerade eine neue Karte mit Grenzen der Unzufriede­nheit.

Dr. Florin Oprescu (* 7. Juni 1977, Ha˛teg, Rumänien) ist Gastlektor für Rumänisch am Institut für Romanistik (Uni Wien). Aus dem Rumänische­n von Dorothee Fellinger.

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