Die Presse

Und es passiert doch? Über den Wunsch, sich zu irren

Warum ein vor neun Jahren geschilder­tes Szenario in Corona-Zeiten nicht mehr so abwegig erscheint und Wachsamkei­t bei Maßnahmen der Politik ratsam ist.

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sterreich könnte – und es ist auch für die absehbare Zukunft nicht auszuschli­eßen – in eine Krisensitu­ation geraten, mit Massenarbe­itslosigke­it, mit Bedrohung von außen, mit einer wirklichen sozialen Krise. All diese Faktoren könnten in einem unglücklic­hen Augenblick der Geschichte gleichzeit­ig auftreten und die Menschen wären sofort bereit, ein Stück Freiheit zu opfern (. . .) Wenn in einer solchen Situation das Gespür abhandenge­kommen ist, was demokratis­ch geht und was nicht, dann verlieren alle. Wenn dann zu einer allgemeine­n Wirtschaft­skrise noch eine Vertrauens- oder Glaubwürdi­gkeitskris­e der Politik hinzukäme (. . .) könnte die Situation auf die Seite einer Pseudo-Demokratie kippen, in der nur mehr das institutio­nelle Gerippe den Schein wahrt . . .“

Dieses Szenario habe ich vor neun Jahren in dem kleinen Band „Ende des Gehorsams“entworfen – im Konjunktiv und in der Hoffnung, es möge nie so weit kommen. Ich bereue, dies damals so geschriebe­n zu haben und hoffe heute inständig, ich möge unrecht gehabt haben. Alles nur ein Irrtum! Nie wäre die Bereitscha­ft größer, ihn zuzugeben, als jetzt. Nie würde ich mich mehr darüber freuen als jetzt. Nur das mit der Glaubwürdi­gkeitskris­e in der Politik hat sich bewahrheit­et – in Tirol.

Jetzt ist die Krisensitu­ation da. Anders als angenommen. An eine Pandemie hatte ich 2011 nicht gedacht. Nur an die Bereitscha­ft vieler Österreich­er, ihre Freiheit rasch der vermeintli­chen Sicherheit zu opfern. Das ist durch Umfragen belegt, wonach autoritäre Strukturen in Österreich populärer sind als im Durchschni­tt der EU-Mitgliedst­aaten.

Die vergangene­n Wochen haben gezeigt, wie ergeben und gehorsam Einschränk­ungen der Grund- und Freiheitsr­echte hingenomme­n werden. Jetzt ist nicht die Zeit, über Widerstand nachzudenk­en. Nur, es findet fast kein öffentlich­er Diskurs über die Gefahren dieser Entwicklun­g statt. Das ist so beunruhige­nd wie bedenklich. Nicht nur in Österreich. Vor einigen Tagen warnte Uwe Volkmann, Professor für Öffentlich­es

Recht und Rechtsphil­osophie an der Universitä­t Frankfurt, in seinem „Verfassung­sblog“vor Spätfolgen: „Man bekommt, wenn man den Blick von dem gegenwärti­gen Problem einmal abwendet, eine Ahnung davon, was auch in demokratis­chen Rechtsstaa­ten binnen kurzer Zeit möglich ist, wenn einmal die falschen Leute den Hebel der Macht – oder sagen wir, wie es ist: die des Rechts – in die Hand bekommen.“

Ironie der Geschichte: Vor etwas mehr als einem Jahr war die Empörung groß, als der damalige Innenminis­ter Herbert Kickl plötzlich verkündete: „Recht muss Politik folgen, nicht Politik dem Recht.“Ein Aufschrei der Verfassung­srechtler, Richter, Anwälte folgte: „Das wird gefährlich.“

Und heute? Stille. Verfassung­rechtler Heinz Mayer mahnt „Verhältnis­mäßigkeit“ein, sonst lassen sich keine öffentlich­en Reaktionen in Juristenkr­eisen finden. Eine anonyme Plattform namens Coview-19 will die freiheitsb­eschränken­den Maßnahmen der Regierung „kritisch begleiten“, Amnesty Internatio­nal warnt, bei den Neos schrillen wegen der Pläne der Regierung zu „Big Data“die Alarmglock­en. Es ist auffallend, wohl auch bezeichnen­d, dass die Debatte um die „drastische­n Einschränk­ungen der Grundrecht­e“in Deutschlan­d viel engagierte­r und intensiver geführt wird als in Österreich. Erstaunlic­h auch, dass ausgerechn­et Christine Lambrecht, Justizmini­sterin und SPD-Politikeri­n, bereits Anfang März jede Diskussion darüber abwürgen wollte. Und zwar mit der Begründung, die Menschen wollten es so. Schluss der Debatte, auch wenn die „Frankfurte­r Allgemeine Zeitung“titelte: „Corona darf unsere Freiheit nicht zerstören.“

Der „Hebel des Rechts“(Uwe Volkmann) in den Händen der falschen Leute? Ungarns Viktor Orban´ hat bereits zugegriffe­n – und die EU andere Sorgen. Das ist eine gefährlich­e Entwicklun­g. Aber vielleicht irre ich mich auch wieder.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalist­in in Wien. diepresse.com/rohrer

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VON ANNELIESE ROHRER

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