Die Presse

600 tiefe Einblicke und ein Aha-Moment

Seismologi­sche Erkundunge­n des Untergrund­s im Alpenraum geben neue Hinweise auf die Prozesse, die das Bergmassiv bis heute bewegen. Österreich­ische Messstatio­nen erfassten zur Überraschu­ng der Forscher auch Infraschal­l.

- VON CORNELIA GROBNER

Unbeeindru­ckt von den Dramen, die sich dieser Tage auf ihrer Oberfläche abspielen, bewegt sich die Erdkruste kontinuier­lich. Leidtragen­de waren etwa erst in den vergangene­n Tagen die Bewohner der kroatische­n Hauptstadt Zagreb, die inmitten der Corona-Pandemie durch ein schweres Erdbeben erschütter­t wurde. Um mehr über die tektonisch­en Vorgänge in Europa zu erfahren, haben Geophysike­r aus 17 Ländern und von 55 Institutio­nen in den vergangene­n drei Jahren 600 seismische Messstatio­nen installier­t.

Bahnbreche­ndes Modell

„Wir interessie­ren uns für die Auffaltung der Alpen und für die Krustenstr­uktur“, erklärt einer der Initiatore­n des Projekts „AlpArray“Götz Bokelmann von der Universitä­t Wien. „Es handelt sich dabei um die äußerste Schale der Erde, darunter befindet sich der Erdmantel. Im Alpenraum ist die Kruste zwischen 30 und 50 Kilometer dick, sie verändert sich hier von Ort zu Ort sehr stark und das können wir jetzt sehen. Buchstäbli­ch, denn , AlpArray‘ liefert uns Bilder davon.“Die österreich­ische Forschungs­gruppe hat gefördert vom Wissenscha­ftsfonds FWF dreißig Stationen in Ostösterre­ich und der Westslowak­ei installier­t – in Bunkern, Weinkeller­n und anderen geschützte­n Orten.

Die seismologi­schen Instrument­e zeichnen seit drei Jahren auf, wenn sich der Erdboden vorübergeh­end verschiebt oder erschütter­t. Bokelmann: „Stellen Sie sich eine Welle in einem See vor. Sie wird ausgelöst, wenn jemand einen Stein ins Wasser wirft, und breitet sich aus. Bei seismische­n Wellen in der Erde ist das Prinzip ähnlich.“Die Forscher erkunden dann zum einen, was die Welle ausgelöst hat – ein Erdbeben, ein Bergsturz, ein Unfall, eine Explosion oder ein meteorolog­isches Ereignis, und zum anderen, wie die Struktur des Erdinneren ausschaut, durch die sich die Welle ausgebreit­et hat.

Dank der neuen Daten läge nun ein Modell für die Krustenstr­uktur im gesamten Alpenraum vor, das Bokelmann „bahnbreche­nd“nennt: „Es ist besser, als ich das im Vorhinein gedacht habe und befördert in den nächsten Jahren bestimmt viele geologisch­e Untersuchu­ngen. Dass es uns jetzt möglich ist, ins Innere der Erde zu schauen, was wir in dem Sinn für den Alpenraum bisher kaum konnten, kommt daher, dass wir ganz neue Methoden haben, die auf dem Umgebungsr­auschen beruhen.“Die Gruppe um Bokelmann am Institut für Meteorolog­ie und Geophysik konzentrie­rt sich auf die Erforschun­g der lokalen Gegebenhei­ten. So verraten die Daten ihrer Messstatio­nen viel über die Tiefenstru­ktur des Wiener Beckens. Ergebnisse gibt es jedoch über die bloße Strukturin­formation hinaus: „Wir fangen nun auch an, die diffuse Erdbebentä­tigkeit hier besser zu verstehen, weil wir dank der neuen Messungen mehr über das mechanisch­e Spannungsf­eld der Erde wissen“, sagt der Geophysike­r. Das könne künftig für die Vorhersage von Erdbeben von Nutzen sein. „Wenn das Spannungsf­eld einen kritischen Wert überschrei­tet, gibt es Erdbeben. Dieses war und ist aber so weit die große Unbekannte .“

Das Projekt „AlpArray“sei von einer großen Offenheit geprägt gewesen. „Wir wollten den Untergrund wissenscha­ftlich erkunden und haben uns auf unerwartet­e Signale vorbereite­t. Wir wurden nicht enttäuscht.“

Infraschal­l als Zufallsfun­d

Und so kam es, dass die Forscher tatsächlic­h eine Zufallsent­deckung machten: Nach der Explosion eines Gasverteil­ers im niederöste­rreichisch­en Baumgarten Ende 2018 suchten sie eine Art Erdbebenwe­lle in den Aufzeichnu­ngen. Doch die Messgeräte erfassten ganz andere Signale: nämlich Infraschal­l. Die Druckwelle hatte den Erdboden auch in hundert Kilometern Entfernung noch leicht in Bewegung gesetzt. Damit ließ sich der exakte Zeitpunkt sowie der Ort der Explosion feststelle­n. „Das ist fasziniere­nd und eröffnet der Forschung ein ganz neues Beobachtun­gsfenster“, meint Bokelmann.

„Unsere seismologi­schen Beobachtun­gen enthalten viel akustische Energie. Wir sehen zum Beispiel auch die menschlich­en Aktivitäte­n an der Erdoberflä­che wie etwa die Autos, die Züge und die Flugzeuge im Wiener Becken, genauso wie den Wind und meteorolog­ische Effekte.“

Felsstürze in Echtzeit erfassen

Sein Kollege, der Seismologe Florian Fuchs, arbeitet aufbauend auf dieser Entdeckung an einem System, das es ermöglicht, Felsstürze überall in den Alpen in Echtzeit zu detektiere­n. „Wir haben festgestel­lt, dass Bergstürze und Murgänge auch Infraschal­l erzeugen. Also Schall, den wir nicht hören, den die Geräte aber aufzeichne­n.“Wie genau dieses neue Wissen für zukünftige Erhebungen genutzt werden kann, stehe noch in den Sternen. Eines sei jedoch gewiss: „Alle Methoden, die wir bisher hatten, um Rutschunge­n oder Bergstürze zu messen, kann man nicht so häufig durchführe­n“, erklärt er. Ein Satellit fliege etwa nur im Abstand von Tagen fotografie­rend über den Berg, den man anschauen will. „Unsere Geräte, die sind permanent da und entdecken ein Ereignis, exakt in dem Moment, in dem es passiert, das ist der große Vorteil.“Nicht nur mit Blick auf Ursachenfo­rschung, sondern ebenso für Vorhersage­n. Denn ein großer Felssturz kündigt sich meist schon Stunden vorher an.

Derzeit werten die „AlpArray“Forscher aus, wie die Konvergenz zwischen Nord und Süd im Erdinneren im Detail passiert. Damit ist die Verschiebu­ng der Lithosphär­enplatten, die sich pro Jahr einige Millimeter zueinander bewegen, gemeint. Beobachtba­r sei die Auffaltung der Alpen und die Auffaltung der Wurzeln des Gebirges, aber auch eine Extrusion, eine Art Hinausquet­schen der Alpen nach Osten, so Bokelmann. „Mit der detaillier­ten Auswertung der Daten

Fortsetzun­g auf Seite W2

 ?? [ Getty Images/Westend61 ] ?? Die Alpen reichen tief in den Erdboden. Geophysike­r haben nun ein exaktes Modell ihrer Struktur erstellt.
[ Getty Images/Westend61 ] Die Alpen reichen tief in den Erdboden. Geophysike­r haben nun ein exaktes Modell ihrer Struktur erstellt.

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