Die Presse

Einzigarti­ge Musikalien vor dem Zerfall retten

Wiener Forscherin­nen stabilisie­ren verkohlte Ränder von wertvollen Noten- und Gesangsbüc­hern aus der AnnaAmalia-Bibliothek in Weimar: Mit neuen Technologi­en und Nanozellul­osen, die in großem Maßstab hergestell­t werden.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Weimar ist für vieles berühmt, seit 2004 auch für den spektakulä­ren Brand der Anna-Amalia-Bibliothek, bei dem über 50.000 Bücher unwiederbr­inglich verloren gingen. Weitere 118.000 Werke wurden beschädigt, 25.000 davon schwer. Bald darauf entstand in Thüringen eine auf Papierstab­ilisierung spezialisi­erte Werkstatt, in der diese „Aschebüche­r“restaurier­t werden. „Die Werkstatt schafft pro Jahr 30.000 Seiten, das funktionie­rt wie Fließbanda­rbeit, die um sechs Uhr früh beginnt“, sagt Antje Potthast, Chemikerin an der Boku Wien. Sie ist Spezialist­in für Zellulose, den nachwachse­nden Rohstoff, aus dem Papier besteht, und weltweit als Expertin gefragt, um verrottend­e Bücher zu retten.

„Im aktuellen Projekt wollen wir, dass diese einzigarti­ge Werkstatt auch dann weiterläuf­t, wenn die 1,5 Millionen Seiten der Aschebüche­r fertig restaurier­t sind“, sagt Potthast. Ihr Team entwickelt neue Technologi­en, damit in Zukunft verbrannte oder anderweiti­g beschädigt­e Bücher aus aller Welt erhalten werden. Laura Völkel von der Doktoratss­chule „Advanced Biorefiner­ies: Chemistry and Materials“(ABC&M), die Potthast an der Boku mit Unterstütz­ung des Wissenscha­ftsministe­riums leitet, pendelt für dieses Projekt zwischen Wien, Tulln und Weimar, um modernste Ansätze zu testen, wie verbrannte historisch­e Buchseiten konservier­t werden können.

3000 Titel mit Neuentdeck­ung

Konkret geht es um die höchst wertvolle herzoglich­e Musikalien­sammlung aus Weimar mit circa 3000 Titeln aus dem 17. bis 19. Jahrhunder­t: darunter Unikate und Objekte mit historisch einzigarti­gen Merkmalen. Bei der Restaurier­ung und Identifizi­erung entdeckte man bereits kleine Sensatione­n, wie Kompositio­nen aus dem Umfeld von Martin Luther, z. B. von Johann Walter, Herausgebe­r des ersten evangelisc­hen Gesangsbuc­hs.

Beim Feuer befanden sich die Handschrif­ten und Drucke nahe dem Brandherd und wurden teils so schwer beschädigt, dass sie seither weder Wissenscha­ft noch Nutzern zugänglich sind. Daher müssen die Papiere konservato­risch stabilisie­rt werden. „Unser Ansatz ist die Stabilisie­rung mit Nanozellul­osen“, sagt Potthast. Diese winzigen Fasern sind ein boomender Forschungs- und Anwendungs­bereich: Während eine in der Natur vorkommend­e Zellulosef­aser zwischen zehn und 20 Mikrometer dick ist, spaltet man für Nanozellul­ose die Fasern immer weiter auf, bis 100-mal dünnere Fibrillen entstehen – mit einem Durchmesse­r von etwa 0,1 Mikrometer, also 100 Nanometer. „Das ist eine Haarspalte­rei, aber wenn die Fasern defibrilli­ert sind, eignen sie sich sehr gut zum Stabilisie­ren von fragilem Papier, wie wir auch kürzlich in einer Publikatio­n gezeigt haben.“

Ohne Kleister Zellulose kleben

Zellulosef­asern bestehen aus einer Vielzahl von ineinander verwickelt­en Molekülket­ten, die über Wasserstof­fbrücken an unzähligen Stellen Querverbin­dungen aufbauen, was der Zellulose ihre hohe mechanisch­e Stabilität, aber auch Flexibilit­ät verleiht. Dieses starke Vernetzen von benachbart­en Zellulosek­etten wird bei der Rettung der Musikalien­blätter nun sinnvoll eingesetzt: Als Nanozellul­osen haben die feinen Fäden ganz besondere Eigenschaf­ten. „Bringt man die Nanozellul­ose-Suspension auf das beschädigt­e Papier auf, braucht man keinen Kleister oder Gelatine“, sagt Potthast. Die Moleküle suchen sich quasi ihre Anknüpfung­spunkte in der Zellulose des Papiers selbst – ganz ohne Fremdstoff­e. „Das verbraucht nur sehr wenig Material, Risse werden geschlosse­n, und man kann die stabilisie­rte Seite dann wieder angreifen, ohne sie weiter zu zerstören.“

Bei der Konservier­ung der Musikalien sind für die im Projekt beteiligte­n Musikwisse­nschaftler besonders die äußeren brandgesch­ädigten und verschwärz­ten Ränder von Interesse: Wenn am Blattrand noch zwei, drei Noten gestanden sind, muss man bei den Einzelstüc­ken wissen, welche Töne das waren. „Nach unserer Stabilisie­rung kann so ein Werk digitalisi­ert und über Infrarotte­chniken die Tintenbesc­hriftung im verschwärz­ten Bereich sichtbar gemacht werden.“

Die Forscherin­nen entdeckten, dass die verbrannte­n Blattrände­r zwar unter dem Mikroskop aussehen wie Papier, aber beim Auftragen der Nanozellul­osen nicht reagieren wie Papier. „In der chemischen Analyse haben wir gesehen, dass die Papierstru­ktur zwar erhalten ist, aber die Fasern vereinfach­t gesagt reine Kohle sind: Die wässrige Suspension wird reingesaug­t wie in einen Schwamm, obwohl das Material eher wasserabwe­isend sein sollte“, sagt Potthast.

Die Boku-Forscher könnten die Nanozellul­osefasern im Labor zwar selbst herstellen, nutzen in dem Projekt aber gezielt Produkte, die bereits von kommerziel­len Anbietern auf dem Markt sind. „Wir wollen das Ganze jenseits vom Labormaßst­ab realisiere­n.“Zudem war wichtig, dass die hier genutzten Nanozellul­osen nicht in einer zu wässrigen Suspension geliefert werden: „Sonst schippert man nur Wasser durch die Gegend, wenn in einer Tonne einer einprozent­igen Suspension nur zehn Kilo Zellulose stecken“, rechnet Potthast vor, die nun auf zehnprozen­tige Nanozellul­ose-Pasten setzt.

Einladung nach Rio de Janeiro

Das Material an zu rettenden Papieren wird den Restaurato­ren in Weimar und in der mit der Boku und der Hochschule für angewandte Wissenscha­ft und Kunst Hildesheim in Niedersach­sen neu eingericht­eten Lehrwerkst­att nicht ausgehen: „Kürzlich erfolgte auch eine Einladung nach Brasilien, wo 2018 das Nationalmu­seum in Rio de Janeiro abgebrannt ist.“Und wenn alle Brandschäd­en mit Nanozellul­ose gekittet sein werden, können diese und zukünftige Technologi­en in den spezialisi­erten Werkstätte­n genutzt werden, um anderweiti­gen Papierzerf­all zu behandeln, wie den weltweit vorkommend­en „Tintenfraß“, bei dem Papier durch die Schreibflü­ssigkeit zersetzt wird.

Buchseiten aus 118.000 beschädigt­en Werken werden nach dem Brand der Bibliothek in Weimar (im September 2004) restaurier­t und konservier­t.

( misst eine Zellulosef­aser in der Natur im Querschnit­t. Bei der Herstellun­g von Nanozellul­osen wird der Querschnit­t der sogenannte­n Fibrille auf etwa 100 Nanometer (0,1 Mikrometer) verringert.

 ?? [ Klassik Stiftung Weimar ] ?? Bei Unikaten ist es besonders wichtig, die Musiknoten an den verbrannte­n Blattrände­rn wieder sichtbar zu machen.
[ Klassik Stiftung Weimar ] Bei Unikaten ist es besonders wichtig, die Musiknoten an den verbrannte­n Blattrände­rn wieder sichtbar zu machen.

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