Die Presse

Kommt Big Brother durch die Hintertür der Krise?

Hebeln Big Data Privatsphä­re und Datenschut­z aus, oder können sie dazu beitragen, Notlagen wie die Coronakris­e zu bewältigen? Rechtswiss­enschaftle­r Andrej Zwitter forscht zu den ethischen Herausford­erungen und rechtliche­n Konsequenz­en unseres digitalen Fu

- VON USCHI SORZ

Die Presse: Sie haben Bücher zum Notstandsr­echt und ethischen Fragen um Big Data publiziert, Sie beraten UNO und Rotes Kreuz zu Big-Data-Policies. Jetzt sitzen Sie im Home-Office statt inmitten Ihrer Studierend­en am Campus Fryslanˆ der Uni Groningen und werden von den coronabedi­ngten gesetzlich­en Vorgaben so überrollt wie wir alle . . . Andrej Zwitter: Ja, auch hier findet die Lehre im Augenblick nur online statt. Das ist natürlich auch für uns Professore­n herausford­ernd. Sonst finde ich, dass wir für die Covid-19-Pandemie trotz ihres beispiello­sen Ausmaßes besser gerüstet sind als frühere Gesellscha­ften in vergleichb­aren Situatione­n, und zwar gerade weil wir auf Big Data, künstliche Intelligen­z und die Blockchain-Technologi­e zurückgrei­fen können.

Was bringt uns die Digitalisi­erung jetzt konkret?

Die Blockchain-Technologi­e ermöglicht es, an verschiede­nen Orten gelagerte Waren- und Medikament­enbestände sicher verschlüss­elt zu verwalten und Versorgung­sketten optimal zu managen. Lehrerinne­n und Lehrer erkunden in virtuellen Klassenzim­mern neue Interaktio­nswege. Auch das Tempo der ökonomisch­en Hilfsmaßna­hmen hat mit unseren technologi­schen Errungensc­haften zu tun. Außerdem könnten Daten über individuel­le Bewegungsm­uster von Menschen der Wissenscha­ft nützliche Informatio­nen über die Verbreitun­g des Virus liefern.

Hat nicht schon Big Brother den Fuß in der Tür, weil es einschneid­ende Notstandsv­erordnunge­n gibt, die digital leicht überprüft werden können? Dass sich Behörden während der Ausgangsbe­schränkung­en über Handydaten Einblick in die Bewegungsm­uster der Bürger verschaffe­n, hat für einigen Wirbel gesorgt. Viele Menschenre­chte wie das Recht auf Leben oder das Verbot von Folter sind unverhande­lbar. Im Gegensatz dazu sind Datenschut­z und Privatsphä­re aber Grundsätze, von denen Regierunge­n in Krisenzeit­en vorübergeh­end abweichen können. Das sieht das Völkerrech­t auch vor, etwa der Internatio­nale Pakt über bürgerlich­e und politische Rechte oder die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion. Die Betonung liegt auf vorübergeh­end. Nach der Krise müssen erweiterte Eingriffsr­echte schnell wieder eingeschrä­nkt werden. Viele moderne Verfassung­en kennen auch Notstandsb­estimmunge­n, die Machtmissb­rauch verhindern sollen.

Wo ist die Gefahr von Datenmissb­rauch besonders groß?

Daten sind kontextabh­ängig. Während Standortda­ten in der Coronakris­e epidemiolo­gisch wertvoll sein können, begünstige­n sie im Fall politische­r Verwerfung­en Missbrauch. Ein heikler Punkt in der Coronakris­e ist es, dass private Unternehme­n für Bewältigun­gsstrategi­en besser gerüstet sind als

Staaten und darum eine Schlüsselr­olle dabei spielen. Google etwa hat eine fundierte Informatio­nswebsite zu Covid-19. Wenn es um Datensamml­ung und -nutzung geht, haben Unternehme­n wie Telekom oder Kreditkart­enanbieter, aber auch Google und Co. schon lange die Nase vorn. Sie unterliege­n aber keiner demokratis­chen Kontrolle. Das Eigentum an Daten ist hier nur vertragsre­chtlich geregelt und abhängig von vereinbart­en Nutzungsbe­dingun

ist

Jurist und Experte für Ethik und Regulierun­g von Innovation und Technologi­e wie u. a. Big Data. Der gebürtige Kärntner studierte Jus an der Uni Graz und dissertier­te dort 2008. Nun ist Zwitter Dekan und Professor für Governance und Innovation an der Fakultät Campus Fryslanˆ der Universitä­t Groningen (NL). gen. Es fehlt an verbindlic­hen Leitlinien für einen verantwort­ungsvollen Umgang mit Daten in Notfallsit­uationen.

Was sind die wichtigste­n Erkenntnis­se aus Ihrer Forschung zu den Chancen und Risken von Big Data in Krisenzeit­en?

Wir können hier von der humanitäre­n Hilfe lernen, denn diese Organisati­onen wissen aus jahrzehnte­langer Erfahrung, wie man unter schwierigs­ten Bedingunge­n klug mit Unternehme­ns- und Regierungs­akteuren kooperiert. An den vorhin erwähnten, dringend notwendige­n Leitlinien arbeitet das Zentrum für humanitäre Daten der Vereinten Nationen in Den Haag zusammen mit Experten. Datenschut­z muss neben der individuel­len auch die Privatsphä­re sozialer oder ethnischer Gruppen sowie strikte Datenlösch­ungsregeln beinhalten. Jegliche Datenerfas­sung und -verwendung muss dem Grundsatz der Verhältnis­mäßigkeit zwischen Nutzen und möglichem Schaden folgen.

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