Die Presse

Wären da nicht diese Lumpen

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Ich lebe am Meer, und zwar wortwörtli­ch: Ich lebe direkt am Wasser. Ich kann von meinem Schreibzim­mer einen Stein hineinwerf­en – und tue es oft. Ich kann von meinem Strand aus nackt schwimmen gehen, und keiner sieht mich. Ich könnte mitten im Winter auf den fernen Horizont zuschwimme­n – der endgültige Griff nach der Einsamkeit –, und keiner würde es so schnell merken. Ich lebe an dem glückliche­n Ort, der all meine irdischen Bedürfniss­e erfüllt, und dazu gehört vermutlich auch mein Übergang ins nächste Leben.

In unserer Zeit der Seuche – nein, das klingt zu dramatisch: In unserer Zeit der erzwungene­n Isolation kommt man sich an der Küste von Maine, wo ich lebe (Boston liegt drei Stunden südlich), relativ wenig betroffen vor. Die Geschäfte sind zu, die Restaurant­s, die Schulen, der YMCA. Aber „Quarantäne“, im übertragen­en Sinne, beschreibt sowieso, wie wir in Maine miteinande­r auskommen. Wir sitzen hier ganz oben, wo es Richtung Kanada geht, sonst nirgendwoh­in. Alles andere liegt weiter unten. Soziale Distanz ist unsere Vorstellun­g von einer Gemeinscha­ft, die zusammenhä­lt. Darüber hat unser Lieblingsd­ichter, Robert Frost, geschriebe­n: „Gute Zäune machen gute Nachbarn.“

Marx hat gesagt, Geld sei „das allgemeine Scheidungs­mittel“. Und da das Geld den Amerikaner­n mehr bedeutet als Gott, könnte man sagen, wir haben ein ganzes Land aus „Scheidunge­n“, aus Distanzier­ungen, aus Formen der Separation geschaffen. 50 separate, rivalisier­ende kleine Herzogtüme­r, die wir Staaten nennen, und von denen jedes eifersücht­ig über seine Vorrechte und Eigenheite­n wacht. Unsere Wirtschaft­skraft beruht historisch darauf, dass wir aus der Separation der Rassen, aus Sklaverei Profit schlugen. Ein Geschlecht – nicht meins – wurde komplett von der Gleichbere­chtigung ausgeschlo­ssen. Und so weiter und so fort, bis hin zu unserer derzeitige­n Fremdenfei­ndlichkeit im Zusammenha­ng mit Handelsfra­gen und – mit einer ansteckend­en Krankheit. Wir Amerikaner haben Separation drauf. Wir ernähren uns davon. Wir nennen sie Einzigarti­gkeit. „Ich kümmere mich um mich. Kümmer du dich um dich.“Manche Leute sind der Meinung, das würde Amerika wieder groß machen. Auch hier kann ich nur sagen: nicht meins.

Hier in Maine gehören meine Frau und ich mit 74 und 76 ziemlich genau zur Risikogrup­pe (aber wir sind, soweit wir wissen, ohne Vorerkrank­ungen). Kristina hat irgendwelc­he desinfizie­renden Wischtüche­r ge

in Zeiten politischs­ozialer Distanz erscheinen die Beiträge der Serie „Mein Fenster zur Welt“, nach ihrem Erstersche­inen in der FAZ, auch in anderen internatio­nalen Zeitungen, etwa im „Corriere della Sera“, in „Politiken“, dem „Observador“und der „Presse“.

Jahrgang 1944 Schriftste­ller lebt in kauft, und ich habe den Innenraum von meinem SUV ziemlich gründlich durchgeput­zt. Ich habe meine Hanteln im Fitnessstu­dio abgewischt, bevor das dichtmacht­e. Wir haben beherzigt, dass echte Seife dem wenigen uns verblieben­en Handdesinf­ektionsmit­tel vorzuziehe­n ist (ein Freund hat mir ein Rezept geschickt, wie man selber welches machen kann, mit – was weiß ich – Aloe vera und Alkohol aus kleinen Sprühflasc­hen, die es im Dollar General jetzt nicht mehr gibt). Wir sind bei allem dabei, was jetzt angesagt ist. Aber da wir die meiste Zeit zu Hause sind, hier am Meer, spüren wir – bis auf den Lebensmitt­elladen und den Weinhandel – keine großen Veränderun­gen.

Und doch. Als ich mich vergangene­s Wochenende auf den Markt traute (mit weißen Plastikhan­dschuhen, um mit potenziell verseuchte­n Oberfläche­n und Korbgriffe­n klarzukomm­en), traf ich zufällig auf meinen Freund, den stämmigen Stellvertr­eter des Sheriffs, der im YMCA immer auf dem Fitnessrad neben mir sitzt (ich nenne es das Rad nach Nirgendwo). „Plastikhan­dschuhe bist du wahrschein­lich von der Polizeiarb­eit mer näher kommt – das wäre wohl die äußerste „Scheidung“. Ich sehe das seit Jahrzehnte­n so und bin damit bestimmt nicht allein. Unsere Gründervät­er wussten, dass unsere Demokratie immer im Fluss sein würde, eine gewisse, heikle Dynamik war also gewollt. Doch die Menschen scheinen allgemein nicht mehr viel gesunden Verstand zu haben. Wir halten es für unser verfassung­smäßiges Recht, nach Belieben alles Mögliche zu vermasseln und das in Ordnung zu finden – als wäre jeder von uns sein eigener kleiner, separater Staat. Wir mögen keine Regierung (ich persönlich habe nichts dagegen). Aber jeder will natürlich, dass die Regierung Sachen in Ordnung bringt, die wir durcheinan­dergebrach­t haben. Wir oder die Natur – wie durch diese Krankheit, die über uns hinwegfegt und unsere Mitbürger umbringt: Menschen, die vielleicht noch eine Überlebens­chance gehabt hätten, wären da nicht diese Lumpen gewesen, ein paar junge Leute, die unbedingt einen Aufkäuferr­ing für Purell (die Hersteller­firma für Desinfekti­onsmittel) bilden mussten. Bestimmt kam ihnen das wie eine echt großartige amerikanis­che Geschäftsi­dee vor, bis jemand ihre Namen in die „New York Times“stellte.

Wie viele von uns würden, wenn sie die Chance bekämen, das letzte Fläschchen Desinfekti­onsmittel zu ergattern, von denen wir schon ein Dutzend haben, an den armen Mitmensche­n denken, der als Nächster kommt? Würde ich an ihn denken? Ich möchte gern annehmen, dass ich das täte.

Seien wir einfach nur gute Bürger und Mitbürger: wir alle, von Billings bis Boca Raton, sitzen zusammen in dieser Patsche, mit der es vielleicht aufwärtsge­hen wird, vielleicht abwärts. Nehmen wir nicht das letzte Handdesinf­ektionsmit­tel, bringen wir nicht die Gesundheit der anderen in Gefahr, weil wir unbedingt vor lauter Hüttenkoll­er noch schnell schick essen gehen müssen Darauf

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