Die Glocken blieben stumm
Bereits zu Lebzeiten hat Raffael da Urbino (1483 bis 1520) weit über Italien hinaus höchste Bewunderung erfahren. Auch 500 Jahre nach seinem Tod bleibt er ein Superstar. Der pictor divinus hat selbst die Natur übertroffen und ein klassisches Ideal der n
Als Raffael starb, war Osterzeit. Die Ewige Stadt still. Die Glocken blieben stumm. Kein Orgelspiel ertönte. So still war es auch gewesen, als Raffael in Urbino seinen ersten Schrei ausgestoßen hatte. Fastenzeit, Fastenzeit für die Augen. Altäre ungeschmückt und farblos. An einem Tag zwischen Gründonnerstag und Ostersonntag. Der Epitaph an Raffaels Grab im Pantheon besagt, dass Raffael am gleichen Tag geboren wurde, wie er 37 Jahre später verstarb, am Karfreitag, dem 6. April. Und die Inschrift des Gelehrten Pietro Bembo beschwört den Mythos rund um den Renaissancemaler: „Ille hic est Raphael timuit quo sospite vinci / rerum magna parens et moriente mori.“(„Der hier: Raffael ist’s, der die Schöpfernatur, da er lebte, / fürchten ließ seinen Sieg, und da er starb, ihren Tod.“)
Auch 500 Jahre nach seinem Tod bleibt Raffael ein Superstar. Rom feiert ihn mit einer Jahrhundertschau in der Galleria del Quirinale. Über 200 Werke aus den größten Sammlungen der Welt, den Uffizien, der National Gallery in London, dem British Museum, dem Prado, dem Louvre und der Albertina sollen Raffaels Schaffen beleuchten. Am 5. März eröffnet, musste die Ausstellung aufgrund der Corona-Pandemie nur wenige Tage später ihre Tore auf unbestimmte Zeit schließen.
Rom 1513: Raffael auf dem Höhepunkt seiner Malerei. Die ganze Stadt war zusammengelaufen, um Raffaels lebensnahes Porträt des Papstes Julius II. in der Kirche Santa Maria del Popolo zu sehen. Minutiös schildert Raffael das bärtige Gesicht des Papstes vom Alter gebeugt. Der kunstsinnige Pontifex hatte mehrere Großprojekte initiiert: Den Auftrag für den neuen Petersdom hatte er an Bramante vergeben, die Sixtinische Kapelle an Michelangelo, und für die Freskierung seiner Privaträume, der Stanzen, engagierte er den – bereits 1509 zum Hofmaler ernannten – 26-jährigen Raffael.
Ich war Mitte zwanzig – wenig älter als Raffael –, als ich das erste Mal nach Rom gefahren bin. Kunstgeschichtestudentin und entflammt für die Renaissance, sah ich die Meisterwerke, die ich bis dahin nur aus Büchern kannte. Ich sah die „Pala Baglioni“(1507) in der Villa Borghese. Eine Tafel voller Dynamik, Farbe und Erzählkraft. Mitreißende Szenen, tiefe Emotion. Die Tafel sollte die Grablegung Christi als Historienbild umsetzen. Doch Raffael stellte den mütterlichen Schmerz Mariens bis zur Ohnmacht (comparsio) ins Zentrum und begründete mit dem raffinierten Arrangement und der Bewegtheit der Protagonisten seinen Ruhm.
Ein Zweikampf der Künste
In der gelehrten Diskussion der Zeit sollte die nachahmende Auseinandersetzung mit Vorbildern zu einem eigenen Stil führen. Raffael hatte für diese Altartafel von den Besten gelernt: Leonardo und Michelangelo. Er hatte ihre Werke in der Kunstmetropole Florenz studiert, wo sie die Szene beherrschten und im großen Saal des Palazzo Vecchio mit dem Entwurf der Schlachtenbilder wetteiferten, ein aufsehenerregender Zweikampf der Künste. Raffael skizzierte vor Ort nach ihren Entwürfen. Die „Pala Baglioni“nutzte er, um mit dem Figurenideal Michelangelos zu konkurrieren.
Bereits mit der „Pala Oddi“(1504), einer Marienkrönung, hatte Raffael sein erstes Vorbild, den 37 Jahre älteren Pietro Perugino, überholt. Ein zentrales Moment von Raffaels Meisterschaft war bereits in der Marienkrönung angelegt: der „Raffael-Stil“der emotional bewegten Figuren, der die devotionale Berührung des Betrachters forderte. Das ästhetische Entzücken wertete man als Indiz religiöser Ergriffenheit. Michelangelo soll polemisiert haben, dass die Verehrung und die Tränen von Frauen und Kindern vor solchen Darstellungen signalisieren, dass es sich keinesfalls um gute, intellektuell durchdrungene Kunst handeln könne. Raffael antwortete mit seinem monumentalsten Zyklus: den Privaträumen des Papstes.
Ich sah die „Stanza della Segnatura“(1510/11) im Vatikan. Die Fresken eröffnen ein Reich zwischen Himmel und Erde, voller gelehrter Szenerien und Anekdoten, persönlichen Porträts und dramaturgischen Masseninszenierungen. In der „Schule von Athen“und dem „Parnass“trifft die Antike auf das Christentum. Bis heute gelang keine Gesamtdeutung der Fresken, der wohl am meisten interpretierten Bilder der Kunstgeschichte. Ich sah, aber was ich wirklich sah, ich weiß es nicht. Ich sah – Jahre später – das Porträt des Baldassare Castiglione (1514 1515) im Pariser Louvre Inbegriff des
Die Ruhe und Empathie des Mannes erfasste mich augenblicklich. Wenige Betrachter hielten davor, obwohl das Gemälde zwischen 1911 und 1913, als die „Mona Lisa“gestohlen worden war, ihren Platz an der Wand einnahm und die Bildnisse auch aufgrund des geheimnisvollen Lächelns der Porträtierten oft verglichen worden waren.
Und da war sie, die hochgepriesene „Gracia“, die Raffael zum pictor divinus hatte aufsteigen lassen, und über die sein Freund Baldassare Castiglioni, Dichter, Humanist und Botschafter am Hof von Urbino, geschrieben hatte: Gracia entstehe „aus einer gewissen Art von Lässigkeit, die die Kunst verbirgt und bezeigt, dass das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande gekommen ist. Man kann daher sagen, dass wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint; und man hat seinen Fleiß in nichts anderes zu setzen als sie zu verbergen.“
Der von Castiglioni eingeführte Topos von Natur und Kunst, der die antike Idee des Malerwettstreites zwischen Zeuxis und Parrhasius aufruft, wird auch zu einer zentralen Denkfigur von Georgio Vasaris 1550 erstmals aufgelegten Künstlerviten. Er besagt, dass erst durch die perfekte Naturnachahmung und die Suggestion vollkommener Lebendigkeit die höchste Form der Kunst entstehe. Zeuxis habe mit seinen gemalten Trauben die vorbeifliegenden Vögel verlockt, Parrhasius mit einem gemalten Vorhang den Malerkollegen getäuscht. Vasari machte für Raffael gar die Überbietung der Natur geltend. Eingebettet in ein historisches Modell, das von der maniera secca zur maniera moderna führte, zeigt Vasari, dass nur die Farbe Raffaels die Natur besiegen könne.
Vasaris Künstlerviten – eine Chronologie des Lebens zwischen Fakt und Idealisierung – blieben für die Kunstgeschichtsschreibung lange das maßgebliche Modell. Er lancierte die Geburt eines neuen Künstlertyps, der nicht nur in der Malerei hervorragt, sondern auch durch seinen liebenswerten und gebildeten Charakter. Der Wettstreit zwischen Michelangelo und Raffael wurde dafür zur narrativen Folie. Raffael von seiner Mutter an der Brust genährt, Frauenliebling und Galant, Antipode des Waisenkindes Michelangelo. Dieser erscheint als melancholischer Einzelgänger und repräsentiert in seiner Kunst die Qualität der erschütternden Wirkmacht (terribilita), Raffael aber zeichnet sich durch Liebe und Anmut aus (gracia).
Bereits zu Lebzeiten hatte Raffael vom Papst bis zu den Herrschern weit über Italien hinaus höchste Bewunderung erfahren. Raffael war eine göttliche Instanz. Die wichtigsten Kunsttheoretiker von der Renaissance bis zur Romantik verehrten ihn als einen Maler, der die Natur übertroffen und ein klassisches Ideal der nachantiken Welt geboren hatte. „Das erste Bild der Welt, neben dem keines besteht“, so hob man Raffaels „Sixtinische Madonna“(1512/13) in den Himmel. 1754 hatte August III. es für eine unfassbare Summe von 25.000 Gold-Scudi vom Kloster San Sisto in Piacenza erworben. Dort war es über 200 Jahre wenig beachtet gestanden. „Platz für den großen Raffael“(1855–1859), ein Gemälde Adolf Menzels, erzählt von der Ankunft des Bildes, dem man im Raum gar den zentralen Platz des Königsthrons überließ. Bis heute ist die auf Wolken schwebende Madonna mit den entzückenden Engelchen zu ihren Füßen Popikone und in der jetzt neu renovierten Gemäldegalerie Dresden zu besichtigen.
Raffaels Huldigung erreichte im 18. Jahrhundert einen makabren Höhepunkt, als seine Gebeine zur Schau gestellt wurden. Auch Johann Wolfgang von Goethe pilgerte bei seiner zweiten Italienreise zum Verehrten und schrieb am 7. März 1788: „Ich sah die Sammlung der Akademie St. Luca, wo Raffaels Schädel ist. Diese Reliquie scheint mir ungezweifelt. Ein trefflicher Knochenbau, in welchem eine schöne Seele bequem spazieren konnte.“Doch Goethe erlag einem Schwindel, die Auffindung der echten „Reliquie“und deren Wiederbestattung im Pantheon 1833 erlebte er nicht mehr.
Hineinziehen in gemeinsame Zeit
Unweit dem Freundschaftsporträt im Louvre sah ich Raffaels „Selbstbildnis mit Fechtmeister“(1518–1520), Raffaels letztes Doppelporträt. Indem sein Freund den Betrachter entdeckt, löst sich die Trennung zwischen Wirklichkeit und Bildfiktion auf. Er sah mich an und schien mit ausgestrecktem Arm auf mich zu zeigen, als wolle er einen hineinziehen in einen gemeinsamen Raum in eine gemeinsame Zeit.
Zum Jubiläum legt Ulrich Pfister, Professor für Kunstgeschichte an der LudwigMaximilians-Universität und Direktor des Zentralinstitutes in München, eine umfangreiche Werkmonografie vor („Raffael. Glaube, Liebe, Ruhm“, C. H. Beck). Obwohl von Raffael im Unterschied zu Michelangelo und Leonardo nur wenige Dokumente überliefert sind, versucht Pfister unter Vermeidung des „Vasari-Problems“die Intentionen Raffaels mit Bildanalysen und einem beeindruckenden Wissen um das komplexe Geistesleben der Zeit zu rekonstruieren. Er zeichnet ein neues Verständnis des Künstlers, der im 20. Jahrhundert an Bedeutung verlor und erst von den Surrealisten wiederentdeckt wurde. Raffael, so Pfister, etablierte seinen künstlerischen Ruhm durch eine vorausschauende Strategie, die geschickte Führung einer Werkstatt, die Aneignung neuester Verbreitungstechniken und einen gekonnt aufgebauten Kreis an Förderern. Raffael wird zum Meister der Selbstinszenierung und Vorreiter eines Künstlermodells zwischen Genie und Management: Raffael, ein postmoderner Künstler?
Letztendlich zeigt Pfister, dass Geschichte immer eine Geschichte der Bedingtheit unserer Wahrnehmung ist. Will man Raffaels schöne Seele beim Spazieren bewundern, so bleibt es wohl am besten, seine grandiosen Bilder zu sehen.
ELISABETH
VOGGENEDER
Studium der Kunstgeschichte in Wien, Dr. phil. Arbeitet seit 2000 als freie Kunsthistorikerin, Kuratorin des Forums Frohner in Stein und Kunstjournalistin Zahlreiche