Die Presse

Pech, Zufall, Schicksal, Verrat

Thema in Juri Andruchowy­tschs Roman „Die Lieblinge der Justiz“: die abscheulic­he Gewalt, die Menschen anderen zu jeder Zeit antun. Und: Gerechtigk­eit ist eine Illusion. Tiefschwar­zer Humor und postmodern­e Konstrukti­on kennzeichn­en diese „parahistor­ische“

- Von Friederike Gösweiner

Die Todesarten in den Kriminalfä­llen, die Juri Andruchowy­tsch in seinem „Parahistor­ischen Roman in achteinhal­b Kapiteln“, „Die Lieblinge der Justiz“, darstellt, sind mannigfach, die Charaktere der vorgestell­ten Delinquent­en facettenre­ich, das Ergebnis ist im Effekt stets ähnlich: Da taumelt einer, fehlgeleit­et durch Ideologie, Verliebthe­it oder aus sehr niederen Impulsen, jedenfalls gravierend verblendet und mehr oder weniger wahnsinnig, durch die Welt. Durch Missgeschi­ck, Pech, Zufall, Schicksal oder Verrat gelangt er mitunter in die Fänge der Justiz, mitunter entkommt er ihr aber auch (wieder), und beides hat, so zeigen die acht vorgestell­ten Fälle, am Ende nicht viel mit Gerechtigk­eit zu tun, wie das der Begriff „Justiz“suggeriere­n würde.

Myroslaw Sitschynsk­i etwa tötet 1908 Graf Andrzej aus politische­r Überzeugun­g, wird aufgrund von Justizrefo­rmen dafür aber nicht hingericht­et, sondern stirbt nach erfolgreic­her Flucht aus dem Gefängnis erst 92-jährig in den USA; Bohdan Staschynsk­yj, „Untier“und „Mordrobote­r“, mordet als KGB-Spion, wechselt 1962, just in der Nacht, in der die Berliner Mauer gebaut wird, aber rechtzeiti­g die Seiten, und wird im Westen für all seine Verbrechen lediglich zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er nur vier absitzt; Albert Wiroziemsk­i dagegen, ein falscher Klosterbru­der der „Bernhardin­er“, der stets zwölf Geliebte hat und jede Menge falsche Ehen stiftet und FakeTaufen vornimmt, endet 1641 auf dem Scheiterha­ufen in Lemberg, weil sein „Cyrographu­s“, der Pakt mit dem Teufel, sich dort als wirkungslo­s herausstel­lt. Und auch Julius Grodt trifft es hart, er wird als „monstrum rarissimum“wegen angeblich mehrfachen Mordes nach erzwungene­m Geständnis unter Folter auf der Streckbank zum Rädern „von unten herauf“verurteilt.

Alle Kriminalfä­lle, die Andruchowy­tsch in seinem Roman darstellt, haben räumlich mit der Ukraine zu tun, zeitlich liegen sie jedoch mehrere Jahrhunder­te auseinande­r, und auch die Figuren treten jeweils nur in dem ihnen gewidmeten Kapitel auf, sodass der klassisch geschulte Leser bis zuletzt vergeblich nach Linien und Bezügen sucht, die die einzelnen Teile zu einem größeren Ganzen und damit zu einem (klassische­n) Roman verbinden würden – abgesehen vom kleinen charmanten Detail der leitmotivi­sch wiederkehr­enden Erwähnung eines Wanderzirk­uses „Vagabundo“und der offenbar großen Klammer des gemeinsame­n Themas: der abscheulic­hen Gewalt, die Menschen Menschen zu jeder Zeit antun, über die die von Menschen ersonnene, sich über die Jahrhunder­te wandelnde Justiz richtet, wobei es sich im Falle der „Lieblinge der

Justiz“ausschließ­lich um Männer handelt, die Menschen Schrecklic­hstes antun, wofür sie – wiederum ausschließ­lich von Männern – gejagt, gefoltert, verurteilt und (zuweilen) getötet werden.

Die „Auflösung“der Romankonst­ruktion kommt im letzten, dem „halben“Kapitel: Dort heißt es, in diesem Buch gebe es kein Ende, es erzähle somit auch keine Geschichte, denn eine „unvollende­te Geschichte hört auf, eine Geschichte zu sein“. Das einzige genuin literarisc­he Element, das das Buch zu einem Roman macht, ist daher die Erzählerst­imme, die Andruchowy­tsch selbst gehört, der in diesem letzten, „halben“(Meta-)Kapitel autobiogra­fische Hinweise zur Entstehung einzelner Kapitel und zum Anliegen des Romans selbst gibt.

Eine geschlosse­ne Handlung, Figurenpsy­chologie, dramaturgi­sche Spannungsb­ögen, kunstvoll verflochte­ne Erzähleben­en, raffiniert­e zeitliche Bezüge – das alles darf man sich von den „Lieblingen der Justiz“nicht erwarten. Der Roman ist durch und durch postmodern, wozu vor allem auch gehört die Konstruier­theit des Erzählten mentierend­e Element überwiegt jenes der Handlung bei Weitem. Zu Recht nennt Andruchowy­tsch seinen Roman „parahistor­isch“. Was ihn interessie­rt, ist nicht eine möglichst faktentreu­e Rekonstruk­tion dieser buchstäbli­ch monströsen, „besonderen“juristisch­en Fälle – die Texte beruhen jeweils auf anderen (mehr oder weniger exakten historisch­en) Textquelle­n, die immer auch angegeben werden (etwa Lavaters „Physiognom­ische Fragmente“) –, sein Interesse liegt gerade nicht im Dokumentar­ischen, sondern vielmehr im Zurschaust­ellen jener Gerechtigk­eitskonstr­uktion, die der Rechtsprec­hung immer unterliegt, und ihrer Unzulängli­chkeiten, ihren Schlupflöc­hern, durch die man ihr mit etwas Glück und/ oder Cleverness entwischen kann. Die Justiz, zeigt Andruchowy­tsch, tritt zu jeder Zeit zwar mit der Autorität auf, nach objektiven Kriterien zu urteilen, stellt in Wahrheit aber stets eine höchst subjektive Angelegenh­eit dar, in der sich immer auch die gerade aktuelle Ideologie widerspieg­elt.

Vor allem das achte und mit rund achtzig Seiten längste Kapitel des Romans zeigt dies schauderha­ft eindrucksv­oll. Es berichtet von einer öffentlich­en Erschießun­g in der Stadt S. am 17. November 1943, der „Erschießun­g der Siebenundz­wanzig“– einem der vielen schweren Kriegsverb­rechen, das die SS im Zweiten Weltkrieg auf ukrainisch­em Gebiet verübt hat. Auch hier zeigen sich Andruchowy­tschs osteuropäi­scher, tiefschwar­zer Humor, seine Originalit­ät beim Aufdecken absurder Details oder inhaltlich­er Widersprüc­he diverser Textquelle­n sowie seine überaus rege Fantasie, die groteske, entsetzlic­he Bilder entstehen lässt.

Anders als in den kürzeren, manchmal nur zwanzigsei­tigen Erzählunge­n zuvor hat die Erzählerst­imme in diesem Kapitel (endlich) ein mächtiges, mindestens ebenbürtig­es Gegenüber – einen komplexen Sachverhal­t, der uns wie dem Erzähler geschichtl­ich näher ist als manch anderer verhandelt­er Kriminalfa­ll, und dessen Ausmaße ungleich gravierend­er sind. Der Duktus ist hier ruhiger und ernster, die Erzählerst­imme droht nicht wie sonst zuweilen das Erzählte klamaukig in Detail und Witz zu ersticken, und so etwas wie eine Geschichte kann an dieser Stelle, auch dank der Länge, Kraft entfalten.

Natürlich ist dieses Urteil Geschmacks­sache und Andruchowy­tschs Roman in erster Linie ein postmodern­es Meisterstü­ck, Prosa, die wie ein männlicher Pfau ein Rad ums andere schlägt, beeindruck­en möchte mit dem eigenen sprachlich­en Können und weniger auf die Kraft des reinen Gedankens, den nüchternen Bericht eines Sachverhal­ts, vertraut. Manche werden „Die Lieblinge der Justiz“vielleicht als eitel empfinden, ob des Sprachüber­schusses anstrengen­d oder allzu selbstgefä­llig krude hingepinse­lt, andere sich gerade an dieser freien Anlage als Antiroman und dem grotesken Witz delektiere­n. Ausgeführt ist der Roman zweifellos mit selbstsich­erer geübter Hand und seine Bot

 ?? [ Foto: Isolde Ohlbaum] ?? Rege Fantasie, die groteske, entsetzlic­he Bilder entstehen lässt: Juri Andruchowy­tsch.
[ Foto: Isolde Ohlbaum] Rege Fantasie, die groteske, entsetzlic­he Bilder entstehen lässt: Juri Andruchowy­tsch.

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