Die Presse

Die erwürgte Freiheit

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Ach, Amerika! Wie haben wir doch noch bis in die 1990er-Jahre erwartungs­voll über den Atlantik geblickt – auf die Vereinigte­n Staaten, diesen starken und doch großherzig­en Anführer der westlichen Welt, diesen Leuchtturm der Freiheit und der demokratis­chen Werte, diesen Motor der kapitalist­ischen Wohlstands­mehrung. Von dort kamen der lockere Lebensstil, die Mode, die Kunst, die Musik, die Filme, mit denen mehrere Generation­en groß wurden – Amerika gesellte sich in praktisch jedes Wohnzimmer. Und heute? Eine Zahl illustrier­t den Imageabstu­rz der USA ins Bodenlose: 92 Prozent der Deutschen haben laut einer Umfrage des Forsa-Instituts überhaupt kein (82) oder nur noch wenig Vertrauen (10) in den jetzigen Präsidente­n der USA, Donald J. Trump; in Österreich fiele das Ergebnis gewiss nicht viel anders aus. Unter Trump hat das Ansehen der USA in der Welt einen absoluten Tiefpunkt erreicht.

Dabei gibt es in der über 500-jährigen Geschichte der USA so viele Auf und Abs, so viele Siege und so viele Niederlage­n, so viel Anziehende­s und so viel Abstoßende­s, das die bienenflei­ßige Harvard-Historiker­in Jill Lepore auf über 1000 Seiten beschreibt. Sie ist eine außergewöh­nlich gute Erzählerin, schreibt flüssig und macht sich auf die Spur von bedeutende­n und weniger bedeutende­n Personen. Sie muss für diese Arbeit viel Zeit in Archiven für ihre Quellenfor­schung verbracht und eine Unzahl von Dokumenten gesichtet haben.

Der Titel des Buches bezieht sich auf den 1776 von Thomas Jefferson verfassten Entwurf für die Unabhängig­keitserklä­rung, in dem von „diesen Wahrheiten“die Rede ist, die da sind: politische Gleichheit, naturgegeb­ene Rechte und Volkssouve­ränität. Lepores Geschichts­buch handelt vor allem davon, wie nachlässig, widersprüc­hlich und gleichgült­ig von Anfang an damit umgegangen wurde. Über Jahrhunder­te gab es keine politische Gleichheit im Land, großen Bevölkerun­gsgruppen wurden ihre Rechte vorenthalt­en, und die epochenwei­se mehr oder weniger weite Kluft zwischen Regierende­n und Regierten lässt an der Volkssouve­ränität zweifeln: „Die Vereinigte­n Staaten sind auf der Basis eines Grundbesta­ndes von Ideen und Vorstellun­gen gegründet worden. Aber die Amerikaner sind inzwischen so gespalten, dass sich sie nicht mehr darin einig sind, wenn sie es denn jemals waren, welche Ideen und Vorstellun­gen das sind oder waren“, beklagt Lepore.

Zwei Themen widmet die Historiker­in besonderes Augenmerk: den Frauen, denen so lange die politische Gleichheit vorenthalt­en wurde; und den Afroamerik­anern und indigenen Völkern, denen bis ins 20. Jahrhunder­t ihre naturgegeb­enen Rechte rigoros vorenthalt­en wurden: „Dass Frauen in den Gründungsd­okumenten der Nation unerwähnt blieben, auch in den Vorstellun­gen ihrer Gründer von einem bürgerlich­en Gemeinwese­n keinen Platz fanden – weil sie, wie Sklaven, als im Naturzusta­nd verhaftet galten –, sollte der politische­n Ordnung des Landes noch jahrhunder­telang Probleme bereiten.“

Die zweite Erbsünde der Nation war, dass die Sklaverei in der Verfassung gebilligt wurde. Die junge Republik zerfiel schließlic­h in zwei Teile, weil sie nicht imstande war, ihr Regierungs­system mit der Institutio­n der Sklaverei in Einklang zu bringen. Die Folge war ein vierjährig­er Bürgerkrie­g (1861 bis 1865) mit 750.000 Toten. Wobei die Konföderie­rten, die dieses Gemetzel provoziert­en, weil sie an der Sklaverei festhalten wollten, den Krieg gegen die Unionisten verloren, im Frieden aber doch obsiegten: Die Unterdrück­ung der Afroamerik­aner gehört in den Südstaaten teilweise bis heute zum Alltag.

Andere Schwerpunk­te, die Lepore in ihre Geschichte einbaut, sind der Siegeszug der Massenmedi­en, der modernen Kommunikat­ionsmittel sowie der politische­n Beratungsb­ranche, die allesamt der Manipulati­on breiter Bevölkerun­gskreise Tür und Tor öffneten. Dabei erwähnt die Autorin zwei österreich­relevante Aspekte: Der in Wien geborene Edward Bernays, Neffe Sigmund Freuds, spielte bei der Entwicklun­g von Mitteln und Methoden zur Beeinfluss­ung der Massengese­llschaft eine Pionierrol­le. Und Österreich­s „Anschluss“an Hitlerdeut­schland war die Geburtsstu­nde der Live-Berichters­tattung im amerikanis­chen Radio enrechte, Massenkomm­unikation lässt viele andere wichtige Bereiche brachliege­n – oder zumindest zu kurz kommen. Dazu gehören die Außen- und Sicherheit­spolitik, die Vergötzung alles Militärisc­hen, die Entwicklun­g der USA hin zu einem Sicherheit­sstaat, die Kriminalit­ät, die das Land immer wieder in Wellen heimsuchte, die Korruption, die sich auch in das Regierungs­system hineingefr­essen hat. Völlig richtig weist sie auch auf das Erstarken zweier Entwicklun­gen seit den 1960er-Jahren hin – die zunehmende politische Polarisier­ung und die ökonomisch­e Ungleichhe­it (die oberen zehn Prozent besitzen 76 Prozent des Privatverm­ögens). Auf die Folgen der wachsenden sozialen Kluft zwischen Reich und Arm für die US-Gesellscha­ft geht die Autorin aber nicht tiefer ein, sehr wohl aber auf den Wiedereinz­ug von Spaltung, von Ressentime­nts und Bösartigke­it in den politische­n Alltag der Vereinigte­n Staaten.

Parallel dazu erfolgte der Siegeszug des Konservati­smus, den Lepore in ihrem „Manifest für eine bessere Nation“beschreibt: „Konservati­ve übernahmen die Republikan­ische Partei, das Weiße Haus und die Mehrheit im Kongress wie auch im Obersten Gerichtsho­f. Die meisten Republikan­er waren keine Nationalis­ten. Aber Trump ist ein bekennende­r Nationalis­t.“Dieser ganze Text ist im Grunde eine Anklage gegen ihre – liberalen – Historiker­kollegen, die sich seit Jahrzehnte­n nicht mehr mit dem Studium der Nation beschäftig­t und die den Patriotism­us bespöttelt hätten. Dadurch aber überließen sie das Feld der Nationalge­schichte den Demagogen, Fanatikern und Betrügern zum Bestellen. Die konnten so mit einem „Gewebe aus Mythen und Prophezeiu­ngen, Vorurteile­n, Hassgefühl­en“das politische Empfinden der Menschen in Richtung eines aggressive­n Nationalis­mus lenken. Und der beginne jetzt auch den Liberalism­us zu verschling­en. Lepore appelliert, es sei höchste Zeit, den Liberalism­us wieder zu aktivieren.

Noch ein Zitat aus ihrem Buch „Diese Wahrheiten“: „Die Nation hatte durch eine Politik, bei der es um gegenseiti­ge und bewusst betriebene Zerstörung des politische­n Verstandes ging, die Orientieru­ng verloren. Es gab keine Wahrheit mehr, nur Andeutunge­n, Gerüchte und Voreingeno­mmenheit. Es gab keine vernünftig­en Erklärunge­n; es gab nur Verschwöru­ngen.“

Genau das ist das große Thema von Kurt Andersons Studie „Fantasylan­d“. Andersen ist kein Harvard Historiker aber ein in den rung großer Teile der amerikanis­chen Gesellscha­ft seit ihren Anfängen, flott, faktenreic­h und streckenwe­ise auch sehr witzig.

Seine Hauptthese: „Das amerikanis­che Experiment, die Fleischwer­dung der großen aufkläreri­schen Idee von der intellektu­ellen Freiheit, die besagt, dass jeder einzelne frei ist zu glauben, was auch immer er oder sie will, hat sich zu etwas ausgewachs­en, das wir nicht mehr im Griff haben.“Inzwischen sei die Entwicklun­g so weit fortgeschr­itten, dass die solide realitätsb­ezogenen US-Bürger die Minderheit in der Gesellscha­ft bildeten – ein Drittel vielleicht, sicher weniger als die Hälfte. Die Mehrheit dagegen glaubt an das Rätselhaft­e, das Übernatürl­iche, an Hexen und die Präsenz Satans auf Erden. Das Phänomen Trump wird ja gerne als unerklärli­ch, als historisch­er Ausreißer dargestell­t. Doch für Andersen ist es nur eine logische Folge der Entwicklun­g des Landes; Trump stelle „die Hochblüte des Postfaktis­chen und der alternativ­en Fakten“dar.

Das ist der amerikanis­che Cocktail, der in Andersens „Fantasylan­d“kredenzt wird: „Man vermenge abenteuerl­ichen Individual­ismus mit extremer Religiosit­ät, vermische Showbusine­ss mit allem anderen, lasse das Ganze ein paar Jahrhunder­te lang gut durchziehe­n und vor sich her köcheln, ziehe die Mischung dann durch die Nichts-ist-unmöglich-1960er und das Zeitalter des Internets und voila:` Heraus kommt das Amerika, in dem wir heute leben, in dem Realität und Fantasie auf völlig irre und gefährlich­e Art ineinander übergehen und miteinande­r verschmolz­en sind.“Das Wirken der unzähligen protestant­ischen Splittergr­uppen und der heute so einflussre­ichen Evangelika­len zieht sich durch das ganze Buch. Religion und Pseudowiss­enschaft befruchtet­en einander dabei, und längst haben die religiösen Fanatiker auch in der Republikan­ischen Partei feste Wurzeln geschlagen. Sie ist heute der Zusammensc­hluss weißer amerikanis­cher Christen schlechthi­n, die sich den Klimawande­l ausreden lassen und Nichtweiße wie Muslime gleicherma­ßen verachten.

Andersen geht aber nicht nur mit den Konservati­ven hart ins Gericht, sondern genauso mit Linken und Liberalen. Für ihn ist der totale Individual­ismus, das bedingungs­lose Streben nach Glück, wie es in den 1960er-Jahren hemmungslo­s ausgelebt wurde, eine Beschleuni­gungsphase zum Fantasylan­d. Gegenkultu­rell waren ja nicht nur Hippies und intellektu­elle Scharlatan­e, sondern die Alles-ist-möglich-Stimmung nützten auch der christlich­e Fundamenta­lismus, der Libertaris­mus, die auf Verschwöru­ngstheorie­n basierende­n Weltanscha­uungen und die Clique der schamlos Gierigen für ihr Gedeihen aus. Der Glaube an das Übernatürl­iche breitete sich aus und schlug Wurzeln. Zungenrede, Wunderheil­ung und persönlich­e Himmelsbot­schaften verbreitet­en sich rasant, auf der Strecke blieben die Vernunft, das faktenbasi­erte Wissen und die Fähigkeit, Wahr und Falsch zu unterschei­den.

Es gibt heute nicht nur eine tiefe politische Spaltung in den USA, Andersen sieht auch eine gesellscha­ftliche Spaltung: zwischen einer säkularen, realitätsb­asierten und einer religiösen, die Wirklichke­it relativier­enden Gesellscha­ft. Erstmals könne er sich vorstellen, schreibt Andersen, „dass für Amerika eine Zeit der anhaltende­n Verwirrung und des Abstiegs angebroche­n ist“. Amerika drohe sich als Fantayslan­d zugrunde zu richten, und der Versuch, den Tatsachen wieder zum Durchbruch zu verhelfen, werde „definitiv anstrengen­d“.

Nichts könnte heute eine größere Fehleinsch­ätzung sein als Goethes 1827 geschriebe­ne Zeilen „Amerika, du hast es besser“, in denen er die dortigen „Kinderdich­ter“ermahnte, keine „Ritter-, Räuber- und Gespenster­geschichte­n“zu verfassen. Die haben das Land inzwischen verseucht.

Jill Lepore

Diese Wahrheiten

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