Nieder mit diesen Löchern
Als im Jahr 1832 die zweite der insgesamt sechs Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts in Frankreich ihren Höhepunkt erreichte, sandte der im Jahr zuvor aus Deutschland nach Paris übersiedelte Heinrich Heine einen Lagebericht an die „Allgemeine Zeitung“in Augsburg. Er machte sich darin über offensichtlich wirkungslose Schutzmaßnahmen lustig, etwa über den Rat, „Leibwäsche“aus Flanell zu tragen, und beobachtete argwöhnisch den Exodus jener, die ihn sich leisten konnten: „Das Volk murrte bitter, als es sah, wie die Reichen flohen und bepackt mit Ärzten und Apotheken sich nach gesündern Gegenden retteten. Mit Unmut sah der Arme, dass das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Teil des Justemilieu und der Haute Finance ist seitdem ebenfalls davongegangen und lebt auf seinen Schlössern.“
Die Betuchten unter den Parisern waren nicht die Ersten und nicht die Letzten, die, wenn Epidemien anrollten, fluchtartig das Land aufsuchten oder sich auf ihren Herrensitzen verbarrikadierten. Als zuvor die Pest in den Jahren 1347 bis 1352 geschätzt ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahingerafft hatte, war die Mortalität etwa der britischen Aristokratie bei (angenommenen) 27 Prozent, die der restlichen Bevölkerung je nach Region zwischen 45 und 70 Prozent gelegen. Den Unterschied machten Hygienebedingungen und der Luxus, sich wie Giovanni Boccaccios illustre Runde in gut ausgestattete Landhäuser zurückziehen zu können, während Handwerker, Taglöhner und Bauern in überfüllten Quartieren und in Holz- und Lehmkaten festsaßen.
Schon kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung hatte Julius Caesars Heeresbaumeister Marcus Vitruvius Pollio, kurz Vitruv genannt, darauf hingewiesen, dass die zu dieser Zeit übliche schachbrettartige Einteilung der Baugelände der Städte im Dienste der Volksgesundheit entgegen den Hauptwindrichtungen zu orientieren sei. Er berief sich dabei auf die Lehren der griechischen Medizin, allen voran auf Hippokrates von Kos, der vor den für schädlich angesehenen Winden und „Miasmen“– den giftigen Ausdünstungen von Boden, Unrat und Fäkalien – warnte. Vitruv: „Wenn diese Winde kalt sind, tun sie weh, wenn sie warm sind, lassen sie kränkeln, wenn sie feucht sind, schaden sie.“Vitruvs „Zehn Bücher über Architektur“gerieten in Vergessenheit, erst 1416, in den Geburtsjahren der Renaissance, wurde eine Abschrift in der Klosterbibliothek von St. Gallen wiederentdeckt. Der Florentiner Architekt Leon Battista Alberti nahm in seinem um 1452 entstandenen Traktat „De re aedificatoria“Vitruvs These von den schädlichen Winden zwar auf, gab jedoch zu bedenken, dass auch die in Städten entstehende verdorbene, verunreinigte Luft wenig zuträglich sei. Die Lehre von den
UTE
WOLTRON
Geboren 1966 in Neunkirchen, NÖ. Studium der Architektur. Dipl.-Ing. „Gartenkralle“Kolumnistin der „Presse“. Bücher: u. a. Funkhaus Wien Ein Juwel am Puls der schädlichen Miasmen trug dazu bei, dass immer wieder Vorschriften zur Beseitigung von Fäkalien und Abfällen erlassen wurden, doch insbesondere in den dicht besiedelten Städten blieb die Sterblichkeitsrate auch in den folgenden Jahrhunderten so hoch, dass sich Christoph Wilhelm Hufeland, ein Zeitgenosse Friedrich Schillers und Leibarzt des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III, 1797 veranlasst sah, die Städte als „offene Gräber der Menschheit“zu bezeichnen. Tatsächlich waren es fast immer Ärzte, die von der „Obrigkeit“verbesserte Lebensbedingungen und entsprechende städtebauliche Konsequenzen forderten. Doch sie fanden kaum bis kein Gehör.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung in den Städten rapide zu – und damit die Elendsquartiere. Ab 1817 kroch, von Indien ausgehend, die erste CholeraPandemie über den Globus und somit auch in Europas dicht besiedelte, teils slumartige und nur mit spärlichster Infrastruktur ausgestattete Städte. Im September 1849 erreichte sie in London einen ersten Höhepunkt. Bei einer Stadtbevölkerung von etwa 2,5 Millionen starben im Schnitt 300 Menschen pro Tag. Erst als die beiden britischen Ärzte John Snow und William Bud nach rastloser Suche im selben Jahr herausfanden, dass die Seuche aller Wahrscheinlichkeit nach von lebenden Organismen im Trinkwasser verursacht werden könnte, nahmen die großen Kommunen mit der ihnen entsprechenden Trägheit den Bau von Kanalisationen und Trinkwasserleitungen nommene Londoner Abwassersystem den heute immer noch üblichen eiförmigen Querschnitt des Kanalrohrs, und auch in München entstand im selben Jahr das Kanalnetzwerk. Die kühnste Stadterneuerung dieser Zeit war zweifelsfrei Georges-Eug`ene Haussmanns radikale Umgestaltung von Paris ab 1853. Selbst die war nicht zuletzt den katastrophalen Auswirkungen der Cholera geschuldet – ein Umstand, auf den die Architekturgeschichte erstaunlich selten verweist. Hatte Frankreich 1832 bereits eine heftige Cholera-Wellen erlitten, so starben während der Pandemie von 1853 bis 1854 allein hier an die 150.000 Menschen. Die Cholera, schrieb Heinrich Heine, war „ein verlarvter Henker, der mit einer unsichtbaren Guillotine ambulant durch Paris zog“. Auch in Wien begann ein Wettrüsten gegen die Krankheit. 1873 konnte etwa die Erste Wiener Hochquellenleitung nach vierjähriger Bauzeit eröffnet werden.
Doch allein mit der Beseitigung der Fäkalien und der Versorgung mit reinem Trinkwasser war es nicht getan. 1876 erschien in Deutschland eine Abhandlung über den Städtebau, in der ihr Autor, der Bauingenieur und Stadtplaner Reinhard Baumeister, einen dringlichen Appell an die politischen Instanzen richtete. Der Mangel an Wohnraum sei nur eines der Probleme: „Vor allem sind die schädlichen Einflüsse auf die Gesundheit zu erwähnen.“Zum Gedeihen des Menschen seien Sonnenlicht und reine Luft notwendig, das Licht werde durch „übermäßig dichte Stellung der Häuser, beschränkte Höfe, kleine Fenster entzogen; die Luft wird durch enges Zusammendrängen in wenige kleine Räume und ungenügende Einrichtungen zur Beseitigung von Unrath verdorben“. Sein britischer Kollege Ebenezer Howard legte mit dem 1898 veröffentlichten Buch „Tomorrow. A Peaceful Path to Real Reform“denselben Aufruf in Form eines Konzepts von „slumless and smokeless cities“vor. Die ringförmig um einen zentralen Park angeordneten Gartenstädte wurden etwa in Letchworth und im deutschen Hellerau umgesetzt.
Dass die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe, zwischen 1918 und 1920 weltweit nach neuesten Erkenntnissen zumindest 50, möglicherweise aber auch bis zu 100 Millionen Menschenleben und damit mehr als beide Weltkriege zusammen forderte, ist im kollektiven Gedächtnis kaum verankert. In Paris saß damals ein junger Mann in einer Dachkammer, trank Cognac und rauchte, weil beides als Prophylaxe gegen die Influenza galt. Nebenbei dachte er darüber nach, wie Architektur die Lebensbedingungen der Menschen verbessern könne. Auch unter diesem Aspekt muss man die Architektur von Le Corbusier verstehen. New York wiederum verdankte der Katastrophe und dem damals amtierenden Gesundheitsbeauftragten Royal S. Copeland eine groß angelegte Gesundheitsreform, die zuletzt ebenso im Städtebau ihr Echo fand. Bürgermeister Fiorello La Guardia präsentierte 1936 das erste Sozialwohnungsprojekt mit den Worten: „Nieder mit diesen verrotteten vorsintflutlichen Rattenlöchern. Nieder mit den Baracken, nieder mit Krankheit, nieder mit den Feuerfallen. Lasst die Sonne herein, lasst den Himmel herein, es dämmert ein neuer Tag.“Auf diesen, nie zu vergessen, wartet derzeit laut UN Habitat rund ein Viertel der Weltbevölkerung in den