Nebbich, hätten sie gesagt
Was mir in diesen Tagen so durch den Kopf geht.
Die Theater und die Kinos sind geschlossen. Treffen mit Freunden sollen wir vermeiden. Die Grenzen sind praktisch gesperrt. Es wird empfohlen, die Wohnung nicht zu verlassen. An immer mehr Orten herrscht eine Ausgangssperre. Das ist unangenehm, aber erträglich. Bei aller Widrigkeit: Die verordneten Maßnahmen haben nichts Demütigendes. Alle sind von ihnen betroffen. Niemand wird durch sie diskriminiert.
Vor 85 Jahren und in den darauf folgenden Jahren wurde beschlossen, dass Juden ihren Beruf als Ärzte, Apotheker oder Rechtsanwälte nicht mehr ausüben dürfen. Sie durften keine Geschäfte und Handwerksbetriebe führen. Sie durften keine staatlichen Schulen und keine Hochschulen mehr besuchen. Juden wurde die Eheschließung mit „Deutschblütigen“verboten. Sie mussten jüdische Vornamen oder den Zusatz „Israel“oder „Sara“tragen. Sie mussten ihr Vermögen abgeben. Sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Telefonanschlüsse von Juden wurden gekündigt. Die Benutzung öffentlicher Telefone wurde ihnen verboten. Lebensmittelmarken wurden ihnen entzogen. Sie durften keine Haustiere halten. Sie mussten nach und nach ihr Hab und Gut inklusive Wollkleidung, Radioapparaten, elektrischen und optischen Geräten, Schreibmaschinen und Fahrrädern abliefern.
Das Virus, das all dies erforderlich machte, trägt den Namen „Nürnberger Gesetze“. Schon vor deren Inkrafttreten hatte es den sogenannten Bäder-Antisemitismus oder Sommerfrischen-Antisemitismus gegeben, der Juden – etwa in Kitzbühel, Schladming oder der Wachau – als unerwünscht kennzeichnete oder ihnen den Aufenthalt verbot. Die Großmütter und Großväter derer, die heute über Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus jammern, hatten in ihrer überwältigenden Mehrheit weder gegen die Ausgrenzung in Urlaubsorten noch gegen die „Nürnberger Gesetze“etwas einzuwenden. Nicht wenige begrüßten die Verordnungen im Stillen oder lautstark. Sie waren davon ja nicht betroffen. Sie richteten sich ja nur gegen die Juden und dienten dem „Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Im günstigsten Fall profitierten die „Deutschblütigen“davon, dass sie von lästiger Konkurrenz befreit wurden oder einfach deren Eigentum „arisierten“. Das Trauma sitzt tief
Zu jenen, auf die die Gesetze und Verordnungen – ab 1938 auch in Österreich – zielten, gehörten auch die Eltern meiner Mutter und die Mutter meines Vaters. Ich habe sie nie gekannt. Sie wurden, wie ich aus den Recherchen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes weiß, etwas mehr als ein halbes Jahr, bevor ich geboren wurde, von Wien nach Łod´z,´ das damals Litzmannstadt hieß, und dann nach Auschwitz deportiert. Mir wurde nicht gesagt, wo sie abgeblieben waren. Meine Eltern, denen die Flucht aus dem angeschlossenen Österreich gelungen war, haben es selbst erst Jahre später erfahren. Das Trauma aber, das solch eine Familiengeschichte hinterlässt, sitzt tief und verfolgt einen ein Leben lang. Doch wen interessiert das schon? Es betrifft ja nur die Juden. Und die Zigeuner. Und die Behinderten. Und die Homosexuellen. Also nur solche, deren Blut und Ehre keinen Schutz verdienen.
Ich bin heute ein alter weißer Mann. Als solcher bin ich in den aktuellen Diskursen schlecht beleumundet. Aber die Wunden, die mir geschlagen wurden, als ich noch nicht geboren war, wollen nicht verheilen. Und sie brechen erneut auf, wenn darüber geklagt wird, dass die Theater und Kinos geschlossen bleiben und die Klopapierrollen im Supermarkt