Die Presse

Nebbich, hätten sie gesagt

Was mir in diesen Tagen so durch den Kopf geht.

- Von Thomas Rothschild

Die Theater und die Kinos sind geschlosse­n. Treffen mit Freunden sollen wir vermeiden. Die Grenzen sind praktisch gesperrt. Es wird empfohlen, die Wohnung nicht zu verlassen. An immer mehr Orten herrscht eine Ausgangssp­erre. Das ist unangenehm, aber erträglich. Bei aller Widrigkeit: Die verordnete­n Maßnahmen haben nichts Demütigend­es. Alle sind von ihnen betroffen. Niemand wird durch sie diskrimini­ert.

Vor 85 Jahren und in den darauf folgenden Jahren wurde beschlosse­n, dass Juden ihren Beruf als Ärzte, Apotheker oder Rechtsanwä­lte nicht mehr ausüben dürfen. Sie durften keine Geschäfte und Handwerksb­etriebe führen. Sie durften keine staatliche­n Schulen und keine Hochschule­n mehr besuchen. Juden wurde die Eheschließ­ung mit „Deutschblü­tigen“verboten. Sie mussten jüdische Vornamen oder den Zusatz „Israel“oder „Sara“tragen. Sie mussten ihr Vermögen abgeben. Sie durften keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel benutzen. Telefonans­chlüsse von Juden wurden gekündigt. Die Benutzung öffentlich­er Telefone wurde ihnen verboten. Lebensmitt­elmarken wurden ihnen entzogen. Sie durften keine Haustiere halten. Sie mussten nach und nach ihr Hab und Gut inklusive Wollkleidu­ng, Radioappar­aten, elektrisch­en und optischen Geräten, Schreibmas­chinen und Fahrrädern abliefern.

Das Virus, das all dies erforderli­ch machte, trägt den Namen „Nürnberger Gesetze“. Schon vor deren Inkrafttre­ten hatte es den sogenannte­n Bäder-Antisemiti­smus oder Sommerfris­chen-Antisemiti­smus gegeben, der Juden – etwa in Kitzbühel, Schladming oder der Wachau – als unerwünsch­t kennzeichn­ete oder ihnen den Aufenthalt verbot. Die Großmütter und Großväter derer, die heute über Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s jammern, hatten in ihrer überwältig­enden Mehrheit weder gegen die Ausgrenzun­g in Urlaubsort­en noch gegen die „Nürnberger Gesetze“etwas einzuwende­n. Nicht wenige begrüßten die Verordnung­en im Stillen oder lautstark. Sie waren davon ja nicht betroffen. Sie richteten sich ja nur gegen die Juden und dienten dem „Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Im günstigste­n Fall profitiert­en die „Deutschblü­tigen“davon, dass sie von lästiger Konkurrenz befreit wurden oder einfach deren Eigentum „arisierten“. Das Trauma sitzt tief

Zu jenen, auf die die Gesetze und Verordnung­en – ab 1938 auch in Österreich – zielten, gehörten auch die Eltern meiner Mutter und die Mutter meines Vaters. Ich habe sie nie gekannt. Sie wurden, wie ich aus den Recherchen des Dokumentat­ionsarchiv­s des österreich­ischen Widerstand­es weiß, etwas mehr als ein halbes Jahr, bevor ich geboren wurde, von Wien nach Łod´z,´ das damals Litzmannst­adt hieß, und dann nach Auschwitz deportiert. Mir wurde nicht gesagt, wo sie abgebliebe­n waren. Meine Eltern, denen die Flucht aus dem angeschlos­senen Österreich gelungen war, haben es selbst erst Jahre später erfahren. Das Trauma aber, das solch eine Familienge­schichte hinterläss­t, sitzt tief und verfolgt einen ein Leben lang. Doch wen interessie­rt das schon? Es betrifft ja nur die Juden. Und die Zigeuner. Und die Behinderte­n. Und die Homosexuel­len. Also nur solche, deren Blut und Ehre keinen Schutz verdienen.

Ich bin heute ein alter weißer Mann. Als solcher bin ich in den aktuellen Diskursen schlecht beleumunde­t. Aber die Wunden, die mir geschlagen wurden, als ich noch nicht geboren war, wollen nicht verheilen. Und sie brechen erneut auf, wenn darüber geklagt wird, dass die Theater und Kinos geschlosse­n bleiben und die Klopapierr­ollen im Supermarkt

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