LEITARTIKEL von Rainer Nowak
Kritik am De-facto-Shutdown muss möglich sein und diskutiert werden. Aber: Bis jetzt konnte keiner eine Alternative dazu vorlegen.
Das Land befindet sich seit zwei Wochen in einer Ausnahmesituation in vielerlei Hinsicht. Für sehr viele Menschen fühlen sich die Ausgangsbeschränkungen, der Stillstand des öffentlichen Lebens, die Schließung des Handels und großer Teile der Wirtschaft bedrohlich an. Nicht nur wegen des Risikos einer Infizierung mit dem Coronavirus, sondern wegen der Isolation, der Einsamkeit, der verständlichen Überforderung mit Home-Office und Kinderbetreuung bzw. Heimunterricht und dem zwar surreal anmutenden, aber realen Gefühl, eingesperrt zu sein, selbst wenn es sich um vergleichsweise komfortable Gefängnisse handelt.
So überraschend die große Bereitschaft der österreichischen Gesellschaft war, angesichts der Bilder aus italienischen Spitälern und aufgrund handfester Zahlen ernst zu nehmender Gesundheitsexperten auf selbstverständliche persönliche Freiheiten zu verzichten, wächst nun die Ungeduld. Das ist menschlich, aber dennoch ein Problem.
Wenn eine seriöse Zeitung wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“nur kurze Zeit nach Beginn ähnlicher Maßnahmen in Deutschland auf Seite eins den Kommentar „Kein Notstand kann von Dauer sein“veröffentlicht, entspricht die wohlargumentierte Binsenweisheit der Wahrheit, nur von welcher „Dauer“ist hier die Rede? Deutschland befindet sich am Anfang des Ausnahmezustands, Österreich hält bei knapp zwei Wochen. Es erinnert an die Kinder, die bei einer längeren Autofahrt kurz nach der Abfahrt bereits fragen: „Wann sind wir endlich da?“Darauf folgt immer die Antwort: „Das dauert noch.“Und irgendwann kommt das beruhigende: „Bald sind wir da.“
Das soll nicht schulmeisterlich klingen, aber wir haben uns vor zwei Wochen vielleicht zu unreflektiert in eine Situation begeben und diese zugelassen, um eine schnelle Ausbreitung des Virus abzubremsen und eine Zuspitzung zu verhindern, wie sie in Norditalien, in Spanien, in Frankreich und in New York gerade passiert. Um diesen eingeschlagenen Weg zu einem vorläufigen Ende zu bringen, werden wir uns mindestens bis zum 13. April noch so verhalten müssen, wie wir das seit zwölf Tagen tun. Danach oder je nach
Analyse der Zahlen zu einem späteren Zeitpunkt wird das öffentliche Leben von uns allen wieder schrittweise erweckt werden. Die Politik hat das übrigens nicht zu erlauben, sondern mittels ihrer kurzzeitig geliehenen Macht zu entscheiden und zu administrieren. Das nur zur Erinnerung an alle UmfragenKrisenmanagement-Kaiser.
Das alles bedeutet keineswegs, dass man in einer solchen Phase nicht offene Debatten über die Sinnhaftigkeit der gewählten Maßnahmen führen kann und soll. Nur weil Donald Trump etwas formuliert („Die Kur darf für den Patienten nicht schlimmer sein als die Krankheit“), heißt das nicht zwangsläufig, dass es falsch ist. Aber noch gibt es kein Beispiel eines Landes oder einer Region, in der es weder rigide Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und/oder (Infizierten-)Tracking, also Überwachung, noch einen Zusammenbruch des Spitalswesens mit unzähligen Toten gegeben hat. Sprich, die massiven Kritiker des Shutdown konnten bis dato keine echte Alternative nennen. Und nein, die einige Monate lang andauerende volle Quarantäne aller Älteren und möglicher Risikogruppen bis zur Erreichung der sogenannten Herdenimmunität ist kaum bis nicht organisierbar.
Was also bliebe, wäre eine Art neoliberaler Darwinismus: Die Wirtschaft hätte demnach wieder Vorrang, mehr Tote müssten in Kauf genommen werden. Das erträgt keine Gesellschaft. Nein, wir müssen noch eine bestimmte Zeit durch, bis wir wieder auf Betriebstemperatur laufen können. Heute und dann wird weiterer Pragmatismus gefragt sein: Dieses Schuljahr wird man bitte wohl großzügig benoten können und aus verlorenen Wochen kein verlorenes Jahr machen. Aus privaten und öffentlichen Schulden sollte man einen Ausweg und kein existenzielles Aus leiten. Auf familiäre und zwischenmenschliche Probleme mit der allerwichtigsten Tugend reagieren: Toleranz.
Über die Lehren der Krise unterhalten wir uns, wenn ihr Ende absehbar ist.