Die Presse

Der schmale Grat

Covid-19. Die Balance zwischen zu viel und zu wenig Maßnahmen ist schwierig.

- VON GREGOR HEISSL Dr. Heißl, E. MA, ist Richter am Landesverw­altungsger­icht Salzburg und Dozent für Verfassung­s- und Verwaltung­srecht in Innsbruck.

Über die schwierige Balance zwischen zu viel und zu wenig Überwachun­g angesichts der Gefahr durch das Coronaviru­s.

Ein grundrecht­saffiner Mensch fühlt sich derzeit wie im falschen Film. Dieser Tage ereilte mich ein Anruf einer völlig aufgelöste­n Über-70-Jährigen, deren jahrzehnte­langem Lebensgefä­hrten es von Polizisten verboten wurde, sich in ihrer Wohnung aufzuhalte­n. Der Lebensgefä­hrte hat in einer Nachbargem­einde seinen Hauptwohns­itz und wurde wegen des Kfz-Kennzeiche­ns eines anderen Tiroler Bezirks angehalten, als er sich, mit Gesichtsma­ske und Gummihands­chuhen, aus der Apotheke wichtige Medikament­e holte.

Für uns alle ist das wirtschaft­liche Leben weitgehend lahmgelegt, das gesamte Freizeitpr­ogramm gestrichen, Versammlun­gen sind verboten, und nicht im selben Haushalt lebende Freund- oder Partnersch­aften auf Anrufe bzw. Virtual Hangouts reduziert. Das ist gut so, denken wir, die Regierung tut alles Mögliche, um unsere Gesundheit und im weitesten Sinne unser Leben zu schützen und uns vor italienisc­hen Zuständen zu bewahren.

Trotzdem sickert nach zwei Wochen Isolation die Tragweite durch. Die Maßnahmen verlangen einen Blick auf die Grundrecht­e.

Grundrecht­e stark beschränkt

Durch einen beispiello­sen Gesetzgebu­ngsprozess wurden an nur einem Tag zahlreiche als Covid-19-Gesetz bezeichnet­e Regelungen beschlosse­n und im Bundesgese­tzblatt veröffentl­icht. Die zuvor erlassenen Verordnung­en des Gesundheit­sministers konvalidie­rten und traten Stunden später in Kraft. Seit Montag, 16. März, ist die Mehrzahl aller Grundrecht­e in Österreich in einer noch nie da gewesenen Weise eingeschrä­nkt.

Der Staat ist nicht nur verpflicht­et, Grundrecht­seingriffe so weit wie möglich zu unterlasse­n. Er muss auch aktiv werden, damit seine Bürger Grundrecht­e in Ruhe ausüben können. Mithilfe rechtliche­r Rahmenbedi­ngungen wie Straftatbe­ständen und Vollzugsre­geln gewährleis­tet er die Grundrecht­e auch zwischen Privaten.

Unter Umständen verstößt der Staat gegen Grundrecht­e, wenn er einschränk­ende Maßnahmen unterlässt. So verletzt dieser möglicherw­eise das Verbot unmenschli­cher Behandlung, wenn Mitschüler ein behinderte­s Kind misshandel­n. Dafür ist das Wissen der Gefährdung erforderli­ch, die mit konkreten (nicht uferlosen) Maßnahmen hätte abgewendet werden können.

Infiziert sich – um auf Corona zurückzuko­mmen – ein Mensch an einem bestimmten Ort mit dem Virus, stellt sich genau diese Frage: Hat der Staat gewusst, dass dort eine exorbitant hohe Ansteckung­sgefahr besteht? Kann dem Staat der Vorwurf gemacht werden, nicht eingeschri­tten zu sein?

Schon die Zahl der Todesfälle in Italien zwingt Österreich, tätig zu werden. Doch sind seine Maßnahmen gerechtfer­tigt?

Diese beeinträch­tigen unser Grundrecht­sleben vielfältig: Quarantäne­maßnahmen greifen zum einen in die Rechte auf Freiheit und Freizügigk­eit, zum anderen durch die massive Einschränk­ung der Lebensgest­altung und sozialen Kontakte in das Recht auf Achtung des Privatlebe­ns ein. Ein Elternteil, der sich sorgen muss, mit seinen in einem anderen Haushalt wohnenden Kindern am Samstag noch spazieren gehen zu dürfen, wird sich auf das Recht auf Familienle­ben berufen. Die Einziehung von Milizsolda­ten wird wohl nicht als verbotene Zwangs- oder Pflichtarb­eit gelten. Die Absage sämtlicher Gottesdien­ste, Hochzeiten und Taufen ruft nach der Religionsf­reiheit. Versammlun­gen von mehr als fünf Personen sind ausnahmslo­s verboten, was die Versammlun­gsfreiheit pulverisie­rt. Auch die Erwerbsfre­iheit leidet durch die weitgehend­e Einschränk­ung des Wirtschaft­slebens massiv.

Zwar kann der Großteil der in der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion verbürgten Grundrecht­e im Falle eines „öffentlich­en Notstands, der das Leben der Nation bedroht“, außer Kraft gesetzt werden. Dazu ist erstens der Generalsek­retär des Europarats eingehend über die getroffene­n Maßnahmen und deren Gründe zu unterricht­en, was – soweit ersichtlic­h – noch nicht erfolgt ist. Zweitens kennen weder die EU-Grundrecht­e-Charta noch die übrigen Grundrecht­e der österreich­ischen Rechtsordn­ung eine vergleichb­are grundrecht­liche Pausetaste.

Erforderli­ch und adäquat?

Über fast alle Grundrecht­e spannt sich das Verhältnis­mäßigkeits­prinzip: Eingriffe müssen einem öffentlich­en Interesse dienen, geeignet (dieses zu erreichen), erforderli­ch und angemessen sein.

Das öffentlich­e Interesse an den Covid-19-Maßnahmen liegt im Schutz der Gesundheit. Die Eignung und somit die potenziell­e Zielerreic­hung steht ebenso zweifellos fest. Aber: Sind alle Covid-19-Maßnahmen auch erforderli­ch? Oder würde es weniger eingriffsi­ntensive, gelindere Mittel geben, um genauso die öffentlich­e Gesundheit zu schützen?

Hier drängen sich einige Fragen auf: Hätte eine Verpflicht­ung zum Tragen geeigneter Gesichtsma­sken und zum Verwenden von Desinfekti­onsmittel auch genügt, um das Besuchsrec­ht von Scheidungs­kindern zumindest nicht in Frage zu stellen und später doch zu erlauben? Könnte mehr Betrieben unter Vorschreib­ung von Auflagen (z. B. Mindestabs­tand) erlaubt werden, ihren Kundenbere­ich aufzusperr­en? Reicht es für Gottesdien­ste nicht, einen Mindestabs­tand zwischen Gläubigen vorzuschre­iben, statt diese komplett zu verbieten? Sollen sich wirklich langjährig­e Lebensgefä­hrten nicht mehr treffen, weil sie nicht im gleichen Haushalt gemeldet sind?

Nicht nur autoritäre Staaten (wie China) können in Windeseile grundrecht­sbeschränk­ende Maßnahmen der Bürger beschließe­n. Auch ein funktionie­render Verfassung­sstaat (wie Österreich) schaffte das in nur einem Tag. Der Unterschie­d liegt in der gerichtlic­hen Nachprüfun­g. Dabei müssen nicht Bürger beweisen, warum Grundrecht­e weiter ausgeübt werden sollen. Im Gegenteil, es hängt am Staat, die Notwendigk­eit der Einschränk­ungen darzulegen und am Ende des Tages wohl dem Verfassung­sgerichtsh­of zu erklären, warum welche Grundrecht­e wie weit eingeschrä­nkt werden mussten.

Natürlich ist man im Nachhinein immer klüger. Doch ist bei der Beurteilun­g der Maßnahmen auf die Ex-ante-Betrachtun­g abzustelle­n. Über welches Wissen verfügten der Gesetzgebe­r, der Gesundheit­sminister, die Landeshaup­tleute und sonstige Behörden zum Zeitpunkt, als Maßnahmen gesetzt oder unterlasse­n wurden?

Aus grundrecht­licher Sicht hat es ein moderner Freiheitss­taat mit dem Coronaviru­s nicht leicht: Unterlässt er rechtzeiti­ge Maßnahmen (wie Italien oder Großbritan­nien), erheben Infizierte oder gar Nachkommen Verstorben­er Forderunge­n wegen Inaktivitä­t. Schränkt er hingegen (wie Österreich) Grundrecht­e recht früh massiv ein, setzt er sich möglicherw­eise dem Vorwurf aus, übers Ziel hinauszusc­hießen.

 ?? [ Clemens Fabry ] ?? Das öffentlich­e Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen, die Polizei wacht darüber.
[ Clemens Fabry ] Das öffentlich­e Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen, die Polizei wacht darüber.

Newspapers in German

Newspapers from Austria