Der schmale Grat
Covid-19. Die Balance zwischen zu viel und zu wenig Maßnahmen ist schwierig.
Über die schwierige Balance zwischen zu viel und zu wenig Überwachung angesichts der Gefahr durch das Coronavirus.
Ein grundrechtsaffiner Mensch fühlt sich derzeit wie im falschen Film. Dieser Tage ereilte mich ein Anruf einer völlig aufgelösten Über-70-Jährigen, deren jahrzehntelangem Lebensgefährten es von Polizisten verboten wurde, sich in ihrer Wohnung aufzuhalten. Der Lebensgefährte hat in einer Nachbargemeinde seinen Hauptwohnsitz und wurde wegen des Kfz-Kennzeichens eines anderen Tiroler Bezirks angehalten, als er sich, mit Gesichtsmaske und Gummihandschuhen, aus der Apotheke wichtige Medikamente holte.
Für uns alle ist das wirtschaftliche Leben weitgehend lahmgelegt, das gesamte Freizeitprogramm gestrichen, Versammlungen sind verboten, und nicht im selben Haushalt lebende Freund- oder Partnerschaften auf Anrufe bzw. Virtual Hangouts reduziert. Das ist gut so, denken wir, die Regierung tut alles Mögliche, um unsere Gesundheit und im weitesten Sinne unser Leben zu schützen und uns vor italienischen Zuständen zu bewahren.
Trotzdem sickert nach zwei Wochen Isolation die Tragweite durch. Die Maßnahmen verlangen einen Blick auf die Grundrechte.
Grundrechte stark beschränkt
Durch einen beispiellosen Gesetzgebungsprozess wurden an nur einem Tag zahlreiche als Covid-19-Gesetz bezeichnete Regelungen beschlossen und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die zuvor erlassenen Verordnungen des Gesundheitsministers konvalidierten und traten Stunden später in Kraft. Seit Montag, 16. März, ist die Mehrzahl aller Grundrechte in Österreich in einer noch nie da gewesenen Weise eingeschränkt.
Der Staat ist nicht nur verpflichtet, Grundrechtseingriffe so weit wie möglich zu unterlassen. Er muss auch aktiv werden, damit seine Bürger Grundrechte in Ruhe ausüben können. Mithilfe rechtlicher Rahmenbedingungen wie Straftatbeständen und Vollzugsregeln gewährleistet er die Grundrechte auch zwischen Privaten.
Unter Umständen verstößt der Staat gegen Grundrechte, wenn er einschränkende Maßnahmen unterlässt. So verletzt dieser möglicherweise das Verbot unmenschlicher Behandlung, wenn Mitschüler ein behindertes Kind misshandeln. Dafür ist das Wissen der Gefährdung erforderlich, die mit konkreten (nicht uferlosen) Maßnahmen hätte abgewendet werden können.
Infiziert sich – um auf Corona zurückzukommen – ein Mensch an einem bestimmten Ort mit dem Virus, stellt sich genau diese Frage: Hat der Staat gewusst, dass dort eine exorbitant hohe Ansteckungsgefahr besteht? Kann dem Staat der Vorwurf gemacht werden, nicht eingeschritten zu sein?
Schon die Zahl der Todesfälle in Italien zwingt Österreich, tätig zu werden. Doch sind seine Maßnahmen gerechtfertigt?
Diese beeinträchtigen unser Grundrechtsleben vielfältig: Quarantänemaßnahmen greifen zum einen in die Rechte auf Freiheit und Freizügigkeit, zum anderen durch die massive Einschränkung der Lebensgestaltung und sozialen Kontakte in das Recht auf Achtung des Privatlebens ein. Ein Elternteil, der sich sorgen muss, mit seinen in einem anderen Haushalt wohnenden Kindern am Samstag noch spazieren gehen zu dürfen, wird sich auf das Recht auf Familienleben berufen. Die Einziehung von Milizsoldaten wird wohl nicht als verbotene Zwangs- oder Pflichtarbeit gelten. Die Absage sämtlicher Gottesdienste, Hochzeiten und Taufen ruft nach der Religionsfreiheit. Versammlungen von mehr als fünf Personen sind ausnahmslos verboten, was die Versammlungsfreiheit pulverisiert. Auch die Erwerbsfreiheit leidet durch die weitgehende Einschränkung des Wirtschaftslebens massiv.
Zwar kann der Großteil der in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Grundrechte im Falle eines „öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht“, außer Kraft gesetzt werden. Dazu ist erstens der Generalsekretär des Europarats eingehend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe zu unterrichten, was – soweit ersichtlich – noch nicht erfolgt ist. Zweitens kennen weder die EU-Grundrechte-Charta noch die übrigen Grundrechte der österreichischen Rechtsordnung eine vergleichbare grundrechtliche Pausetaste.
Erforderlich und adäquat?
Über fast alle Grundrechte spannt sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip: Eingriffe müssen einem öffentlichen Interesse dienen, geeignet (dieses zu erreichen), erforderlich und angemessen sein.
Das öffentliche Interesse an den Covid-19-Maßnahmen liegt im Schutz der Gesundheit. Die Eignung und somit die potenzielle Zielerreichung steht ebenso zweifellos fest. Aber: Sind alle Covid-19-Maßnahmen auch erforderlich? Oder würde es weniger eingriffsintensive, gelindere Mittel geben, um genauso die öffentliche Gesundheit zu schützen?
Hier drängen sich einige Fragen auf: Hätte eine Verpflichtung zum Tragen geeigneter Gesichtsmasken und zum Verwenden von Desinfektionsmittel auch genügt, um das Besuchsrecht von Scheidungskindern zumindest nicht in Frage zu stellen und später doch zu erlauben? Könnte mehr Betrieben unter Vorschreibung von Auflagen (z. B. Mindestabstand) erlaubt werden, ihren Kundenbereich aufzusperren? Reicht es für Gottesdienste nicht, einen Mindestabstand zwischen Gläubigen vorzuschreiben, statt diese komplett zu verbieten? Sollen sich wirklich langjährige Lebensgefährten nicht mehr treffen, weil sie nicht im gleichen Haushalt gemeldet sind?
Nicht nur autoritäre Staaten (wie China) können in Windeseile grundrechtsbeschränkende Maßnahmen der Bürger beschließen. Auch ein funktionierender Verfassungsstaat (wie Österreich) schaffte das in nur einem Tag. Der Unterschied liegt in der gerichtlichen Nachprüfung. Dabei müssen nicht Bürger beweisen, warum Grundrechte weiter ausgeübt werden sollen. Im Gegenteil, es hängt am Staat, die Notwendigkeit der Einschränkungen darzulegen und am Ende des Tages wohl dem Verfassungsgerichtshof zu erklären, warum welche Grundrechte wie weit eingeschränkt werden mussten.
Natürlich ist man im Nachhinein immer klüger. Doch ist bei der Beurteilung der Maßnahmen auf die Ex-ante-Betrachtung abzustellen. Über welches Wissen verfügten der Gesetzgeber, der Gesundheitsminister, die Landeshauptleute und sonstige Behörden zum Zeitpunkt, als Maßnahmen gesetzt oder unterlassen wurden?
Aus grundrechtlicher Sicht hat es ein moderner Freiheitsstaat mit dem Coronavirus nicht leicht: Unterlässt er rechtzeitige Maßnahmen (wie Italien oder Großbritannien), erheben Infizierte oder gar Nachkommen Verstorbener Forderungen wegen Inaktivität. Schränkt er hingegen (wie Österreich) Grundrechte recht früh massiv ein, setzt er sich möglicherweise dem Vorwurf aus, übers Ziel hinauszuschießen.