Überwachen statt Daheimbleiben?
Kanzler Sebastian Kurz denkt darüber nach, Big Data im Kampf gegen die Pandemie einzusetzen. Wie aber könnte eine digitale (Selbst-)Überwachung via Handy in Österreich funktionieren?
Mit seiner jüngsten eher vagen Ankündigung, dass man nachdenke, Big Data im Kampf gegen Corona einzusetzen, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz für viele Fragezeichen gesorgt. Denn Big Data ist ein schwammiger Begriff, der sowohl die alltägliche Auswertung von Massendaten als auch die persönliche digitale Überwachung a` la China umfasst. Dementsprechend aufgeschreckt reagierten die Oppositionsparteien, die auf eine Einbindung pochen. Irritation auch bei den Grünen, wo es heißt: Man kenne diese Pläne nicht.
Aus der ÖVP heißt es dazu bisher lediglich: Big Data solle helfen, die Epidemie in Schach zu halten, wenn das Land wieder „auf Normalbetrieb“hochgefahren wird, wenn also – zugespitzt formuliert – der „Hausarrest“durch eine digitale Leine ersetzt wird.
Wie diese aussehen könnte? Drei hypothetische Szenarien: raussetzung für eine Warnnachricht. Bis jetzt muss die Infektion ärztlich bestätigt werden (um Missbrauch zu vermeiden, muss der Infizierte seine Telefonnummer dem Roten Kreuz angeben). Künftig soll man eine Vorwarnung verschicken können, wenn der neue Symptom-Checker der App einen Verdacht anzeigt, der später bestätigt oder verneint werden muss. Denkbar wäre auch, den Symptom-Checker mit Telemedizin zu verbinden, oder dass die Kontakte des Infizierten zustimmen, im Verdachtsfall von den Gesundheitsbehörden kontaktiert zu werden. Das sei aber Zukunftsmusik und müsse erst rechtlich geprüft werden, sagt Tschohl. Rot-Kreuz-Sprecher Thomas Marecek meint: „Alles Schritt für Schritt, aber ja, bei der App ist noch viel Luft nach oben.“
Prinzipiell könnte man auch in das Erstellen von individuellen Bewegungsprofilen z. B. über Handy-Standortdaten einwilligen. Das Rote Kreuz hat sich aber gegen das Modell entschieden: Anders als in Asien, wo Bewegungsdaten mit anderen „verschnitten“werden (z. B. Videoüberwachung), seien die Standortdaten allein letztlich zu ungenau – die Nähe zu einer anderen Person lasse sich nur auf „plus/minus fünf Meter“eingrenzen, sagt Tschohl. „Unsere App wird derzeit vor allem von Gesundheitspersonal verwendet. Stellen Sie sich vor, alle, die im Supermarkt in AKH-Nähe in der Schlange mit einem Infizierten stehen, werden informiert und gehen dann in Selbstquarantäne.“Zudem sind Bewegungsprofile nicht wirklich anonym, wie Nikolaus Forgo,´ Vorstand des Instituts für Innovation und Digitalisierung im Recht am Wiener Juridicum, erklärt.
Wien. Noch immer herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung Ratlosigkeit darüber, wie eine Viruserkrankung, die in 80 Prozent der Fälle mild oder sogar asymptomatisch verläuft, fast die ganze Welt zum Stillstand bringen konnte.
Denn das derzeit grassierende Coronavirus, das seinen Ursprung höchstwahrscheinlich in China genommen hat, ist weder das tödlichste der jüngeren Geschichte noch das ansteckendste oder jenes mit den häufigsten schweren Verläufen. Dennoch wird es mehr gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schaden anrichten als beispielsweise das Zika-Virus (2015/2016), Ebola (2014 bis 2016), die Vogelgrippe (2006), die saisonale Grippe (jedes Jahr), Sars (2002/2003) und Mers (2012) – allesamt Erreger, die sich innerhalb der vergangenen 20 Jahre ausbreiteten, hinsichtlich der Globalisierung also ähnliche Bedingungen vorfanden.
Was macht also das aktuelle Coronavirus mit der Bezeichnung Sars-CoV-2 so außergewöhnlich? So unberechenbar? So gefährlich? Die Antwort wurde schon genannt. Es ist der zumeist milde Verlauf der Erkrankungen. Infizierte verbreiteten das Virus unbemerkt quer über den Globus. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass die Pandemie in den Wintermonaten der nördlichen Halbkugel ausbrach und viele Erkrankte die Symptome von jenen der klassischen Grippe nicht unterscheiden konnten.
Denn rund die Hälfte aller Infektionen verläuft gänzlich ohne Symptome, die Betroffenen sind aber genauso ansteckend wie jene mit starken Beschwerden wie etwa hohem Fieber, Atemnot, Husten, Halsschmerzen, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen und Verlust des Geruchs- bzw. Geschmackssinns. Das ist ein überaus seltenes Phänomen. Die durch Influenzaviren ausgelöste Grippe etwa bricht innerhalb weniger Stunden aus und setzt Erkrankte ein bis zwei Wochen außer Gefecht – in dieser Zeit, in der sie hochinfektiös wären, stecken sie für gewöhnlich niemanden an, da sie mit Fieber, Gliederschmerzen und extremer Abgeschlagenheit im Bett liegen. Weswegen sich jährlich nie mehr als fünf bis 20 Prozent der Bevölkerung infizieren.
Ähnliches gilt für Ebola – die Erkrankung nimmt fast immer einen derart schweren Verlauf, dass die konsequente Isolation der (vor allem in dieser Phase infektiösen) Betroffenen sowie Schutzmaßnahmen für medizinisches Personal zumeist weitere Ansteckungen verhindern. Bei der Epidemie zwischen 2014 und 2016 wurden weltweit knapp 30.000 Infizierte registriert, etwas mehr als 11.000 starben.
„Nur“774 Sars-Tote – wieso?
Das vielleicht beste Beispiel, um das Gefahrenpotenzial von Sars-CoV-2 zu verdeutlichen, ist aber Sars – das Schwere Akute Respiratorische Syndrom, das von einem verwandten Virus der Coronafamilie (Sars-CoV) verursacht wird. Der Übertragungsweg ist derselbe (Tröpfchen- und Schmierinfektion), ebenso wie die Inkubationszeit (theoretisch zwei bis 14 Tage, im Schnitt fünf bis sieben Tage). Die Basisreproduktionsrate – also die Zahl jener, die eine infizierte Person im Schnitt ansteckt – ist bei Sars mit zwei bis fünf grundsätzlich höher als beim Coronavirus mit zwei bis drei, die Sterblichkeitsrate mit zehn sogar sieben- bis zehnmal höher.
Dennoch forderte die Sars-Pandemie 2002/2003 weltweit „nur“774 Todesopfer – bei 8000 Erkrankten. Zum Vergleich: Die Zahl der Coronatoten liegt aktuell bei mehr als 30.000 – gut 650.000 haben sich bis Sonntag infiziert. Wie ist das möglich? Aus zwei Gründen: Zum einen gab es bei Sars wenige milde oder asymptomatische Verläufe – wer sich infizierte, machte zumeist eine rund zweiwöchige Krankheit mit (Covid-19-ähnlichen) Beschwerden wie Schüttelfrost,
Fieber, Husten, Atemnot und Durchfall durch. Und zum anderen wurden die Infizierten erst ansteckend, nachdem sich die ersten schweren Symptome zeigten, nicht schon während der Inkubationszeit. Sie konnten also mit Beginn der Kontagiosität isoliert werden und niemanden mehr anstecken.
Mehr Antikörpertests notwendig
Eine Maßnahme, die bei Sars-CoV-2 wegen der vielen asymptomatischen Verläufe nicht möglich ist, weswegen der Ruf nach flächendeckenden Antikörpertests immer lauter wird, um den Immunstatus der Bevölkerung zu bestimmen und herauszufinden, wer die Erkrankung schon hinter sich hat und wer noch geschützt werden muss. Südkorea beispielsweise erzielte mit dieser Strategie große Erfolge. Aber selbst dort ist es nicht gelungen, das Virus im Keim zu ersticken. Oder sonst irgendwo.
Denn die Kombination aus einer relativ langen Inkubationszeit von bis zu zwei Wochen und rund 80 Prozent sehr milden bzw. asymptomatischen Verläufen bei gleichzeitig hoher Übertragungsfähigkeit ab dem ersten Tag der Infektion und bis zu einer Woche nach Abklingen der Symptome ist ein ausgesprochen seltener Unglücksfall. Einer, der zwar für den Einzelnen keine allzu große Gefahr darstellt, wegen der exorbitant hohen Fallzahlen aber praktisch jedes Gesundheitssystem der Welt an seine Grenzen und – wie in Italien zu sehen ist – darüber hinaus bringt.
Die Stunde der Forschung
Was das nun für die Bevölkerung bedeutet? In erster Linie warten. Letztlich darauf, dass Schritt für Schritt die Herdenimmunität erreicht wird und sich das Virus nicht mehr unkontrolliert ausbreiten kann. Wann es so weit ist, hängt auch von der Einhaltung der Isolationsmaßnahmen und Verhaltensregeln ab, die in den kommenden Monaten immer wieder adaptiert werden.
Aber noch mehr von den Hunderttausenden Wissenschaftlern, die jetzt gerade auf der ganzen Welt nach neuen Behandlungsmethoden und Impfstoffen forschen – mit beinahe unbegrenzten Mitteln. In ihrer Hand liegt nicht nur unser Leben, sondern vor allem unser Lebensstil. Mit einem Durchbruch – und vielversprechende Ansätze dafür gibt es – könnten sie diesem Spuk innerhalb weniger Monate ein Ende bereiten. Damit wir zur Normalität zurückkehren können, die wir kennen. Bevor wir uns an eine neue gewöhnen.