Geschichten der Ansteckung
Lokalaugenschein. Wie konnte sich das Virus verbreiten? Wie lebt man mit dem Stigma? Der Angst? Wie geht das Leben weiter? Ein Besuch in zwei Gemeinden.
Im beschaulichen Ort Ardagger ist es dieser Tage noch ruhiger als sonst. Die Straßen sind menschenleer, es fahren kaum Autos. Die Gemeinde im Mostviertel war eine der ersten Niederösterreichs, die mit Covid-19 konfrontiert war. Rund 40 Personen wurden positiv getestet, etwa 250 sind in Quarantäne – eine starke Belastung für das 3500-Seelen-Dorf.
Wie so viele Covid-19-Geschichten beginnt auch diese mit einem Skiurlaub in Tirol. Allerdings ohne Apr`es-Ski-Bars. Mehrere Teilnehmer einer nicht mehr ganz jungen Reisegruppe haben sich infiziert – wo, ist unklar. Zurück in Ardagger treffen sie Freunde am Stammtisch. Symptome: noch keine. Man geht zu einem Begräbnis, kondoliert. Man geht zu einer Geburtstagsfeier, gratuliert. Man isst mit der Familie zu Abend und besucht Verwandte am Wochenende – und plötzlich leiden mehrere Personen im Ort Anfang März an Fieber, Husten, Halsweh. Die Tests brachten Gewissheit. „Zu Beginn verbreitete sich die Krankheit schnell, wir haben darum schon vor allen anderen einen Shutdown gemacht“, erzählt Bürgermeister Hannes Pressl (ÖVP).
Trotzdem kam es zu Neuansteckungen, deren Ursprung teilweise nicht mehr nachvollzogen werden kann. Der Verdacht: Ardagger liegt im Bezirk Amstetten, der direkt an Perg grenzt – es gibt viele Berufspendler. Perg ist mit 193 Fällen (Stand Sonntag, 15 Uhr) Oberösterreichs Problembezirk. Dort verbreitete sich das Virus rasant über Infizierte in einem Chor. Altenheimpfleger steckten Klienten an, Lehrer ihre Schüler. In einer Gemeinde wurden zwölf Volksschulkinder positiv getestet.
Gerade zu Beginn sei die Stimmung in der Gemeinde von Angst und Schuldzuweisungen geprägt gewesen, sagt Pressl. Wer hat die
Krankheit eingeschleppt? War jemand unvorsichtig? „Niemand kann etwas dafür, wenn er krank wird. Zu der körperlichen Qual kommt für die Betroffenen auch eine seelische“, sagt Pressl.
Schuldgefühle
Davon erzählt auch Herr Josef (47, Name geändert), der sich bei einem Besuch bei einer Bekannten ansteckte. Während die Krankheit bei ihr leicht verlief, führte Herr Josef gegen Covid-19 fast zwei Wochen lang einen harten Kampf. Immer wieder hatte er Fieberschübe – von einer Minute auf die andere kletterte das Fieber auf 39 Grad, eine Stunde später war wieder alles normal. Dazu kamen unerträgliche Gliederschmerzen – und die noch unerträglicheren Sorgen. „Wir wohnen in einem Mehrgenerationenhaus, meine Eltern im Erdgeschoß. Ich habe davon geträumt, vor ihrem leeren Grab zu stehen“, sagt er. Etliche Male habe er, während er tagelang allein im Bett gelegen war, Gedanken gewälzt, wann er wen getroffen hatte. Er führte viele Telefonate mit Menschen, die sich um ihn, aber auch um sich selbst sorgten.
Auch Bürgermeister Pressl führt dieser Tage viele Gespräche, versucht die Gemeinde zusammenzuhalten. Der Ortschef schreibt beinahe täglich auf seinem Blog, berichtet über aktuelle Fallzahlen, gibt Betroffenen Raum für ihre Erfahrungen. Er versucht Geschäftstreibende zu ermutigen, weiterzumachen – bittet die Gemeinde um Hilfe. „Und es funktioniert mit einiger Kraftanstrengung gut“, sagt er. Die größte Aufgabe werde aber sein, trotz der Angst wieder zu Normalität zurückzufinden. Kleine Lichtblicke gibt es: Vier Personen sind wieder gesundet – sie alle wollen nun helfen. Ihren Mitbürgern, aber auch der Wissenschaft, der sie sich zur Verfügung stellen.
Der kranke Bürgermeister
Der ÖVP-Landtagsabgeordnete und Korneuburger Bürgermeister, Christian Gepp, braucht Verschnaufpausen. Er spricht langsam und leise, er ist noch nicht wieder bei Kräften. Der Bürgermeister, der zuletzt im In- und Ausland gereist ist, hat sich angesteckt – wo, ist unklar. Zeit, krank zu sein, hat er eigentlich nicht. Als Ortschef hat er alle Hände voll zu tun, denn Korneuburg ist mit 103 Coronafällen ebenfalls stark betroffen. Einige resultieren aus Skiurlauben, die meisten aber aus Ansteckungen in einem Fitnessstudio, dessen Betreiber sich infiziert hatten. Einige andere haben sich in der Praxis eines selbst betroffenen Arztes infiziert, der anfänglich keine Symptome hatte. „Es ist die Ungewissheit, die an den Menschen nagt“, sagt Gepp, der ebenfalls versucht, die Bürger bei Laune und das System aufrechtzuerhalten. Letzteres erfordert viel Organisation. Gemeindemitarbeiter von Wasser, Müll oder Winterdienst werden in Teams eingeteilt, damit die Ansteckungsgefahr etwas minimiert wird.
Wenn man an dieser Sache etwas Positives sehen wolle, dann, dass die Hilfsbereitschaft der Bürger seiner Gemeinde geradezu überwältigend sei, so Gepp. Die Herausforderung der nächsten Zeit werde sein, eine gute Balance zwischen Zu-Hause-Bleiben und geistiger und körperlicher Fitness zu finden. Und langfristig, wenn das vorbei sei, die aufgebaute Distanz und die tief sitzende Angst loszuwerden.