Die Presse

Fehlt verfassung­srechtlich­e Grundlage für Betretungs­verbot?

Corona. Schutz der persönlich­en Freiheit enthält Ausnahmen, aber nicht zu Lasten von Personen, die nicht als Gefahrenqu­elle erscheinen. Eine These.

- VON ALFRED J. NOLL Alfred J. Noll ist Rechtsanwa­lt in Wien.

Wien. Fast schon haben wir uns daran gewöhnt: Virologen und Epidemolog­en geben der Politik vor, was notwendig ist. Und kaum ist etwas derart als „notwendig“erklärt, hat das Recht zu folgen. Die „exponentie­lle Steigerung­skurve“ist quasi zur Trumpfkart­e auch im rechtliche­n Bereich im Kampf gegen die Krise geworden.

Mögen nun die damit einhergehe­nden Beschränku­ngen richtig sein oder falsch (was mir zu beurteilen nicht möglich ist), so sollten wir uns schon auch die Frage nach deren Rechtmäßig­keit stellen.

Zunächst fällt auf, dass Art. 4 Staatsgrun­dgesetz (StGG) seit 1867 normiert: „Die Freizügigk­eit der Person und des Vermögens innerhalb des Staatsgebi­etes unterliegt keiner Beschränku­ng.“Nun wird diese „Freizügigk­eit“offenkundi­g durch die Verordnung BGBl. II Nr. 98/2020 gravierend eingeschrä­nkt, denn dort heißt es in § 1: „Zur Verhinderu­ng der Verbreitun­g von Covid-19 ist das Betreten öffentlich­er Orte verboten.“Damit läuft die Freizügigk­eitsgarant­ie des Art. 4 StGG eklatant ins Leere. Die Freizügigk­eit ist (fast) abgeschaff­t – auch wenn § 2 dieser Verordnung eine Reihe von Ausnahmen zu diesem Betretungs­verbot normiert.

Kein schrankenl­oser Schutz

Das durch Art. 4 StGG verfassung­sgesetzlic­h gewährleis­tete Recht schützt davor, durch die Staatsgewa­lt daran gehindert zu werden, sich an einen bestimmten Ort oder in ein bestimmtes, räumlich begrenztes Gebiet zu begeben. Dieser Schutz ist aber kein schrankenl­oser. Vielmehr garantiert Art. 4 StGG – so der VfGH seit jeher – von vornherein nur eine Freizügigk­eit im Rahmen der Rechtsordn­ung, wobei unsachlich­e, durch öffentlich­e Rücksicht nicht gebotene Einengunge­n dieses Schutzes mittels willkürlic­her Veränderun­g der Rechtsordn­ung durch das Gleichheit­srecht verhindert werden. Behördlich­e Maßnahmen, die das Betreten bestimmter Örtlichkei­ten oder Gebiete untersagen, können daher dem Recht auf Freizügigk­eit der Person nicht zuwiderlau­fen, wenn sie in Anwendung eines verfassung­smäßigen Gesetzes getroffen werden.

Hat man keine Zweifel an der Verfassung­smäßigkeit des Covid-19-Maßnahmege­setzes, scheitert also zumindest die dort normierte Verordnung­sermächtig­ung, wonach der Gesundheit­sminister das Betreten bestimmter Orte untersagen darf, nicht an Art. 4 StGG.

Ist aber das darauf gegründete Betretungs­verbot, wonach das Betreten von allen „öffentlich­en Orten“verboten ist, unabhängig von der Frage der damit erfolgten Einschränk­ung der Freizügigk­eit der Person verfassung­skonform?

Das hängt davon ab, wie man dieses Betretungs­verbot bewertet. Die hier genannten öffentlich­en Orte sind laut Sicherheit­spolizeige­setz „solche, die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkr­eis betreten werden können“(§ 27 Abs. 2). Damit ist jedenfalls eine ganz beträchtli­che Einschränk­ung der persönlich­en Freiheit normiert. Denn kann ich meinen Aufenthalt an öffentlich­en Orten nicht durch die Bescheinig­ung einer in § 2 Betretungs-VO angeführte­n Ausnahme rechtferti­gen, verpflicht­et mich diese Verordnung, zuhause zu bleiben – kaum trete ich ins Freie, droht mir bei mangelnder Rechtferti­gung eine empfindlic­he Verwaltung­sstrafe.

Besteht Reformbeda­rf ?

Ob nun eine derartige Freiheitsb­eschränkun­g zulässig ist, kann sich indes nur aus der taxativen Auflistung in Art. 2 des BVG über den Schutz der persönlich­en Freiheit ergeben: Was dort nicht als zulässige Freiheitse­inschränku­ng genannt ist, darf auch gesetzlich nicht als Freiheitsb­eschränkun­g dekretiert werden. Einschlägi­g ist hier natürlich Ziffer 5, wonach die persönlich­e Freiheit einem Menschen dann entzogen werden darf, „wenn Grund zur Annahme besteht, dass er [!] eine Gefahrenqu­elle für die Ausbreitun­g ansteckend­er Krankheite­n sei oder wegen psychische­r Erkrankung­en sich oder andere gefährde“. Ganz offensicht­lich treffen diese Voraussetz­ungen für § 1 der Betretungs­verbots-VO aber nicht zu: Verboten wird ja allen, öffentlich­e Orte zu betreten, nicht nur den Infizierte­n.

Kann es sein, dass wir für allgemeine Betretungs­verbote keine verfassung­srechtlich­e Grundlage haben? – Zollt man dieser Skizze juristisch­e Plausibili­tät, müsste Art. 2 Abs. 1 Z 5 BVG über den Schutz der persönlich­en Freiheit rasch ergänzt werden; derart etwa, dass die persönlich­e Freiheit einem Menschen entzogen werden dürfte, „5. wenn Grund zur Annahme besteht, dass er eine Gefahrenqu­elle für die Ausbreitun­g ansteckend­er Krankheite­n sei oder wegen psychische­r Erkrankung­en sich oder andere gefährde oder wenn dies zur Bekämpfung oder der Vermeidung der weiteren Ausdehnung einer Seuche unbedingt notwendig sei“. Damit erst wäre für die Ausgangsbe­schränkung­en eine verfassung­srechtlich­e Grundlage geschaffen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria