Fehlt verfassungsrechtliche Grundlage für Betretungsverbot?
Corona. Schutz der persönlichen Freiheit enthält Ausnahmen, aber nicht zu Lasten von Personen, die nicht als Gefahrenquelle erscheinen. Eine These.
Wien. Fast schon haben wir uns daran gewöhnt: Virologen und Epidemologen geben der Politik vor, was notwendig ist. Und kaum ist etwas derart als „notwendig“erklärt, hat das Recht zu folgen. Die „exponentielle Steigerungskurve“ist quasi zur Trumpfkarte auch im rechtlichen Bereich im Kampf gegen die Krise geworden.
Mögen nun die damit einhergehenden Beschränkungen richtig sein oder falsch (was mir zu beurteilen nicht möglich ist), so sollten wir uns schon auch die Frage nach deren Rechtmäßigkeit stellen.
Zunächst fällt auf, dass Art. 4 Staatsgrundgesetz (StGG) seit 1867 normiert: „Die Freizügigkeit der Person und des Vermögens innerhalb des Staatsgebietes unterliegt keiner Beschränkung.“Nun wird diese „Freizügigkeit“offenkundig durch die Verordnung BGBl. II Nr. 98/2020 gravierend eingeschränkt, denn dort heißt es in § 1: „Zur Verhinderung der Verbreitung von Covid-19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten.“Damit läuft die Freizügigkeitsgarantie des Art. 4 StGG eklatant ins Leere. Die Freizügigkeit ist (fast) abgeschafft – auch wenn § 2 dieser Verordnung eine Reihe von Ausnahmen zu diesem Betretungsverbot normiert.
Kein schrankenloser Schutz
Das durch Art. 4 StGG verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht schützt davor, durch die Staatsgewalt daran gehindert zu werden, sich an einen bestimmten Ort oder in ein bestimmtes, räumlich begrenztes Gebiet zu begeben. Dieser Schutz ist aber kein schrankenloser. Vielmehr garantiert Art. 4 StGG – so der VfGH seit jeher – von vornherein nur eine Freizügigkeit im Rahmen der Rechtsordnung, wobei unsachliche, durch öffentliche Rücksicht nicht gebotene Einengungen dieses Schutzes mittels willkürlicher Veränderung der Rechtsordnung durch das Gleichheitsrecht verhindert werden. Behördliche Maßnahmen, die das Betreten bestimmter Örtlichkeiten oder Gebiete untersagen, können daher dem Recht auf Freizügigkeit der Person nicht zuwiderlaufen, wenn sie in Anwendung eines verfassungsmäßigen Gesetzes getroffen werden.
Hat man keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Covid-19-Maßnahmegesetzes, scheitert also zumindest die dort normierte Verordnungsermächtigung, wonach der Gesundheitsminister das Betreten bestimmter Orte untersagen darf, nicht an Art. 4 StGG.
Ist aber das darauf gegründete Betretungsverbot, wonach das Betreten von allen „öffentlichen Orten“verboten ist, unabhängig von der Frage der damit erfolgten Einschränkung der Freizügigkeit der Person verfassungskonform?
Das hängt davon ab, wie man dieses Betretungsverbot bewertet. Die hier genannten öffentlichen Orte sind laut Sicherheitspolizeigesetz „solche, die von einem nicht von vornherein bestimmten Personenkreis betreten werden können“(§ 27 Abs. 2). Damit ist jedenfalls eine ganz beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit normiert. Denn kann ich meinen Aufenthalt an öffentlichen Orten nicht durch die Bescheinigung einer in § 2 Betretungs-VO angeführten Ausnahme rechtfertigen, verpflichtet mich diese Verordnung, zuhause zu bleiben – kaum trete ich ins Freie, droht mir bei mangelnder Rechtfertigung eine empfindliche Verwaltungsstrafe.
Besteht Reformbedarf ?
Ob nun eine derartige Freiheitsbeschränkung zulässig ist, kann sich indes nur aus der taxativen Auflistung in Art. 2 des BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit ergeben: Was dort nicht als zulässige Freiheitseinschränkung genannt ist, darf auch gesetzlich nicht als Freiheitsbeschränkung dekretiert werden. Einschlägig ist hier natürlich Ziffer 5, wonach die persönliche Freiheit einem Menschen dann entzogen werden darf, „wenn Grund zur Annahme besteht, dass er [!] eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei oder wegen psychischer Erkrankungen sich oder andere gefährde“. Ganz offensichtlich treffen diese Voraussetzungen für § 1 der Betretungsverbots-VO aber nicht zu: Verboten wird ja allen, öffentliche Orte zu betreten, nicht nur den Infizierten.
Kann es sein, dass wir für allgemeine Betretungsverbote keine verfassungsrechtliche Grundlage haben? – Zollt man dieser Skizze juristische Plausibilität, müsste Art. 2 Abs. 1 Z 5 BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit rasch ergänzt werden; derart etwa, dass die persönliche Freiheit einem Menschen entzogen werden dürfte, „5. wenn Grund zur Annahme besteht, dass er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei oder wegen psychischer Erkrankungen sich oder andere gefährde oder wenn dies zur Bekämpfung oder der Vermeidung der weiteren Ausdehnung einer Seuche unbedingt notwendig sei“. Damit erst wäre für die Ausgangsbeschränkungen eine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen.